// die fäden ferdinands

Eines Tages beschloss Ferdinand, der immer schon unter schlimmen Verlustängsten gelitten hatte, einen Faden zu nehmen und sein Haus an seinen linken Fuß zu binden. Er nahm eine lange Kordel, knüpfte das eine Ende an den Türknauf und das andere um das Fußgelenk, stopfte den dazwischen liegenden Teil des Bindfadens in eine gewaltige Tasche und […]

Eines Tages beschloss Ferdinand, der immer schon unter schlimmen Verlustängsten gelitten hatte, einen Faden zu nehmen und sein Haus an seinen linken Fuß zu binden. Er nahm eine lange Kordel, knüpfte das eine Ende an den Türknauf und das andere um das Fußgelenk, stopfte den dazwischen liegenden Teil des Bindfadens in eine gewaltige Tasche und spürte, dass die Welt für ihn ein ganzes Stück sicherer geworden war.
Seine Umgebung reagierte auf dieses Verhalten mit großem Befremden; was die Leute nicht wussten, aber auf Nachfrage bereitwillig erläutert bekamen, war, dass Ferdinand in seiner Kindheit ein Trauma erlitten hatte. Als er just in dem Augenblicke, in dem nur siebeneinhalb Meter von ihm entfernt ein Lastwagenfahrer die Kontrolle über sein monströses Gefährt verloren und eine auf dem Weg zum Schwimmunterricht befindliche Schulklasse unter sich zermalmt hatte, feststellte, dass ihm wohl während eines sitzend verbrachten Aufenthaltes in der Straßenbahn der Haustürschlüssel aus der Tasche gerutscht und für immer verloren gegangen war.
Zwar erkannte auch Ferdinand, dass man von dem zeitlichen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen nicht ohne weiteres auf einen solchen kausaler Natur schließen konnte; dennoch quälte ihn seitdem die Angst, dass das Schicksal aus einer grausamen Laune heraus das geringe Unglück eines materiellen Verlustes fortan stets mit dem Tode unschuldiger Kinder garnieren könne.

So also war sein Haus zu der Ehre gekommen und die anderen Dorfbewohner gewöhnten sich daran. Monate verstrichen, in denen nichts verloren ging, da sagte plötzlich Anna, seine Frau: „Ich möchte doch gerne einmal wissen, wie die Welt aussieht dort draußen jenseits unsres Dorfes.“
Und Ferdinand sagte: „Aber es führt nur eine Straße hinaus, diese geht ins Nachbardorf und dort bist du schon gewesen.“
Doch Anna antwortete: „Straßen sind auch nur lang gezogene Plätze; in welche Richtung ich mich auf ihnen bewege, entscheide ich immer noch selbst!“
Das leuchtete Ferdinand ein, doch er fürchtete, dass ihr dort, wo ihre Füße sie hinführen würden, etwas Schlimmes zustoßen, sie gewissermaßen verloren gehen und damit die Gelegenheit für ein ungeheures Unglück schaffen könne. So bat er Anna zu bleiben, und als sie sich weigerte, verlieh er seiner Bitte Nachdruck und knüpfte auch sie mit einer Kordel an seinen Leib.

Anna war, was nur wenige überraschte, alles andere als erfreut. Sie fühlte sich reduziert und mochte von Ferdinand nicht genau so behandelt werden wie sein zwar schönes, deshalb aber nicht weniger gegenständliches Haus. Trotzdem ließ sie es sich in ihrer noch immer überwältigenden Liebe zu ihm gefallen. Erst als Ferdinand, der Schriftsteller war und sein Leben mit nichts anderem als den Erzeugnissen seiner Schreibmaschine bestritt, auch diese mit einem Faden an sich band und dasselbe schließlich auch mit den Mitgliedern seiner Skatrunde tat, beschloss sie über Nacht, ihren Faden kurzerhand zu durchschneiden und ihm einfach davonzulaufen.

Ferdinand war ganz betrübt und lief hinterher, doch weiter als zur Dorfgrenze kam er nicht; zu träge waren die Skatbrüder, zu schwer die Schreibmaschine und zu fest verankert mit dem Boden das Haus, an das er sich einst aus gutem Grunde gebunden hatte. So ließ er schließlich von der Verfolgung ab und trollte sich weinend zurück ins Heim.

Doch den wirklichen Verlust erkannte Ferdinand erst, als er wieder im Hause war. Denn seine Schere, stellte er dort fest, die hatte Anna gleich mitgenommen.

// von dirk böhler