// kuriositätenkabinett

[Falls Ähnlichkeiten mit real existierenden Fernsehsendungen in dieser fiktiven Geschichte auftauchen sollten, so sind diese nicht beabsichtigt!] Ein Pinsel wischte schnell über sein bleiches Gesicht. Es war ein wenig teigig. Er hatte kleine, schwarze Käferaugen, die nervös zuckten. Ein dünner Schnurrbart saß über seinen breiten Lippen. Jetzt gähnte er, riss sein Maul auf. Drinnen konnte […]

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[Falls Ähnlichkeiten mit real existierenden Fernsehsendungen in dieser fiktiven Geschichte auftauchen sollten, so sind diese nicht beabsichtigt!]

Ein Pinsel wischte schnell über sein bleiches Gesicht. Es war ein wenig teigig. Er hatte kleine, schwarze Käferaugen, die nervös zuckten. Ein dünner Schnurrbart saß über seinen breiten Lippen. Jetzt gähnte er, riss sein Maul auf. Drinnen konnte jeder die schweren Hauer sehen. Der Mann war klein und neigte zur Fülle. Weil er etwas kurz geraten war und leicht übersehen werden konnte, zog er oft Hüte auf. Er war Fernsehmoderator. Klein, aber mit einem gewaltigen Mundwerk. Er blickte zur Uhr. Sie lief rückwärts. „Noch drei Minuten! Dann gehen wir auf Sendung!“ plärrte eine Stimme. Um ihn herum wuselte allerlei Viehzeug. Assistenten und Praktikantinnen. Gerade verkabelte ihn jemand. „Juli, niemals Julian! Vergessen Sie das bloß nicht!“ zwitscherte es. „Wie war noch einmal der Name dieser Stoffwechselkrankheit?“ fragte er zerstreut in das Menschengewimmel. „Sendung!“ brüllte jemand. Er stieß eine Regieassistentin von sich und galoppierte auf die Bühne. Rumms! Da war er.
„Wunderschönen Tag!“ trällerte er ins Publikum. Es wurde geklatscht. „Ich freue mich, Sie zu einer neuen Folge Veritas-TV begrüßen zu dürfen.“ Er verlor sich im Labyrinth der Witze und das Publikum kugelte sich am Boden. Er zwirbelte kichernd seinen Schnurrbart und leitete zum ersten Thema der Sendung über. Ein netter Beitrag, dachte er sich. Rührselig.
„Vor zwei Jahren besuchte unser Reporter ein quirliges Mädchen. Juli.“ Er spürte, dass das Publikum angespannt zuhörte. Sie lauschten mit offenen Mündern und Ohren. „Juli ist aber kein normales Mädchen!“ Das Publikum quiekte. So sehr hatte er es erschreckt. „Juli wurde im Körper eines Jungen geboren, Julian. Wir haben sie wieder besucht und geschaut, wie es ihr heute geht.“ Das Publikum begann exaltiert zu klatschen. Der Beitrag wurde über zwei große Bildschirme gesendet. Alle beugten sich weit nach vorne, um nichts von dem Film zu verpassen. Schließlich hatten sie für den Spaß Geld bezahlt!
Ein schmales Mädchen mit breiten Wangenknochen lächelt in die Kamera. Vorsichtig. Eine Stimme kommt aus dem Off. „Das ist Juli. Sie wurde als Julian geboren. […] Schon als kleines Kind wollte Julian keine Jungenkleidung tragen. Er hat Kleider und Schminke bevorzugt wie seine drei älteren Schwestern.“ Es werden Kinderfotos eingeblendet. Man sieht einen kleinen Jungen mit Fußballschuhen und Lippenstift. Julian im Sommerkleid. Mit Ohrringen. Schnitt. Kamerazoom zu einem Haus am Fluss. Ein bärtiger Bio-onkel unter Apfelbäumen. Milder Blick. Es wird eingeblendet: Heinz, Julis Vater. Er sagt langsam: „Irgendwann ging das nicht mehr. Ich konnte ihren Willen nicht unterdrücken. Sie ist ein Mädchen. Auch wenn da etwas mit dem Körper schief gegangen ist.“ Er knetet seine Hände. Schnitt. Juli mit seidenen, langen Haar steht vor dem Spiegel und schminkt sich. Ein nettes Mädchen. Vielleicht ein wenig schüchtern. Normal. Nur die Hose sitzt komisch. Sie erklärt mit belegter Stimme: „Ich bin kein Junge. Ich hasse Autos. Ich hab mich noch nie mit jemandem geprügelt. Und Mädchen küssen find ich eklig. […] Irgendwann bin ich mit meinen Eltern zu einem Kinderpsycho gegangen. Der hat dann ´ne Hormontherapie vorgeschlagen. Das ist alles in Deutschland ganz gut kompliziert. Weil es da so komische Gesetze gibt. Aber wir haben das geschafft.“ Sie schnäuzt sich die Nase. Schnitt. Der behandelnde Arzt erscheint im Bild. „Das Wichtigste war, dass ich feststelle, ob da wirklich in seinem Körper eine Mädchenseele steckt. Nach vielen Gesprächen war ich überzeugt und bin es auch noch immer. Ganz fest! Er ist ein Mädchen und leidet schrecklich. Obwohl man da viele Hürden nehmen muss, haben wir die Hormontherapie beginnen können.“ Er lächelt zufrieden in sich hinein. Schnitt. Juli und ihr Vater beim Kinderpsychologen. Der Arzt fragt sie: „Und wie geht es dir denn so mit den Hormonen? Wie fühlst du dich?“ „Klasse,“ meint sie und steckt eine grün gefärbte Haarsträhne hinters Ohr. Am Anfang der Sendung hat sie erzählt, dass sie Popstar werden will. Wieder ein Schnitt. Juli sitzt auf einer Schaukel. Sie schwingt durch die Luft. Dann hält sie an. Die Kamera zoomt auf sie zu. Verträumt flüstert sie: „Ich will endlich operiert werden. Der Schwanz macht mich verrückt!“
Der Beitrag war zu Ende. Der Moderator hatte es sich in einem weißen Sessel gemütlich gemacht. Seine dicken, kleinen Beinchen waren überschlagen. Links und rechts von ihm saßen Juli und ihr Vater, sie in einem roten, er ebenso wie der Moderator in einem weißen Sessel.
„Juli,“ plapperte der Moderator fidel. „Ich freu mich, dass du kommen konntest.“ Er machte eine Pause und überlegte kurz. Er glaubte zu spüren, dass das Publikum aufgeregt den Atem anhielt. „Weißt du, was ich super toll finde – was ich selbst gar nicht so könnte -, das ist, wie du so ganz locker, lalala, mit deiner ….. Krankheit umgehst.“ Manche im Publikum hatten vergessen den Mund zu schließen. Sie starrten gebannt auf das schmale Mädchen. Juli scharrte mit den Füßen am Boden. Der Vater schwitzte. Es herrschte eine peinliche Stille. Sie wollte wohl nicht antworten. Der Moderator lachte ein bisschen verlegen. Zwirbelte sein Schnurrbärtchen. Stellte schnell eine andere Frage. „Juli, was machst du gerne, wenn du Zeit hast?“ „Shoppen mit meiner Mami,“ rief sie wie aus der Pistole. „Wirst du eigentlich wegen deinem Anderssein diskriminiert oder spüren das die Leute gar nicht?“ Juli schluckte. Antwortete. Kaum war ihre Antwort zu Ende, war dem Moderator schon wieder eine neue Frage eingefallen. Er sprudelte wie eine geschüttelte Champagnerflasche. Das Publikum verfolgte jede von Julis Bewegungen. Betrachtete ihren Körper. Wie sie mit dünnem Stimmchen antwortete. Man war begeistert. Zum Schluss wünschte der Moderator Juli viel Glück, dass sie bald operiert werden könne. Unter brausendem Applaus verließ sie mit ihrem Vater die Bühne. Der Moderator überbrückte die Zeit mit einigen Witzen. Dann kam schon der nächste Beitrag. Nun ging es über eine seltene Stoffwechselkrankheit. Die Kinder, die mit dieser Krankheit geboren werden, altern sechsmal so schnell wie normale Menschen. Mit zehn Jahren leiden sie unter Rückenproblemen und Blasenschwäche. Faszinierend. Diesmal ging es um einen kleinen Jungen aus den USA, der mit dieser Krankheit geboren worden war. Es wurde ein Beitrag gesendet. Anschließend wurde das Greisenkind wie ein kleines Hündchen von seiner Mutter auf die Bühne geführt. Eine imposante, schicke Dame, sichtlich stolz auf ihr Kind. Sie stützte den schwachen Jungen. Er hatte ein eingegipstes Bein. Weil alte Knochen schnell brechen. Besonders beim Spielen. Das Kind lächelte schüchtern. Gerührt trocknete sich das Publikum die Augen. Es applaudierte. Stand auf. Klatschte die ganze Zeit im Rhythmus. Es feuerte den kleinen Alten an, es bis zum Sessel zu schaffen. Das alte Kind kicherte aufgeregt und presste seine Lippen angestrengt aufeinander. Endlich sank es in seinen roten Sessel. Der Moderator begrüßte es überschwänglich. Ein kleines Mädchen brachte dem Greisenkind einen Blumenstrauß, machte einen Knicks und verschwand schnell wieder. Das alte Kind roch an den frischen Blumen. Es nieste. Sein Gesicht verknitterte sich noch mehr. Es sah aus wie das einer Puppe aus Pappmaché. Dann erhob sich das Kind langsam aus seinem Sessel und lispelte leise, wobei jeder im Publikum sehen konnte, dass es schon die Dritten hatte: „Danke.“
// von johanna schricker
// illustrationen von tom würzburg