// zuckerbeat volume 37

Jeder kennt dieses Gefühl: in die leeren Augen seines Gegenübers zu blicken. Sich zu fragen, was für Abgründe sich wohl hinter der menschlichen Fassade auftun, wenn man versuchten würde, sein Herz aus dem Gefängnis herauszureißen, das es seit geraumer Zeit zu umgeben scheint. In gewisser Weise ist das neue Album der Stills also durchaus als […]

the-stills.jpgJeder kennt dieses Gefühl: in die leeren Augen seines Gegenübers zu blicken. Sich zu fragen, was für Abgründe sich wohl hinter der menschlichen Fassade auftun, wenn man versuchten würde, sein Herz aus dem Gefängnis herauszureißen, das es seit geraumer Zeit zu umgeben scheint. In gewisser Weise ist das neue Album der Stills also durchaus als Befreiungsschlag zu werten. „Oceans Will Rise“ kommt wie eine postmoderne Monsterwelle auf dich zu. Anstatt aber alles in Grund und Boden zu reißen, entscheiden sich die Musiker nicht etwa mit den Wassermassen abzusaufen, sondern packen das Surfbrett aus und genießen den Trip. Schon beim Opener wird eine starke Affinität zum Sound von The Clash sichtbar. Damit folgen sie der schon beim Vorgänger eingeschlagenen Richtung und finden erstmals auch Freunde auf den Tanzflächen der modebewussten Indie-Herzlichkeiten. Die düstere Atmosphäre des Frontcovers findet ihre Entsprechung aber dennoch in den bisweilen deprimierenden Textpassagen einer Band, die auf dem besten Weg zu sein scheint, den neu entdeckten Drang aufs Tanzparkett mit allerhand Widerhaken zu versehen. Dass sie sich dabei nicht verheddert, zeugt nur umso mehr von der Versiertheit dieser vor allem hierzulande stark unterbewerteten Totenkopf-Combo. Dementsprechend fordere ich hiermit ausdrücklich dazu auf, so lange die Hüften zu schwingen, bis sich die Beine ineinander verknoten. Denn nur, wer auch mal auf die Fresse fällt, kriegt ein Gefühl davon, wie es sich anfühlt zu fliegen. Auf den Boden donnern kann man dann anschließend auch noch zu der neuen Platte von Disco Doom.disco-doom.jpg Die Züricher Crew frönt auf ihrem Album „Dream Electric“ ganz zwanglos den Freuden der Ruhestörung. Soll heißen. Die Band hat früher sicher ziemlich viel Sonic Youth gehört und auch den Back-Katalog von Tortoise internalisiert. Jedenfalls verschwenden sie keine große Zeit damit, sich irgendwie anzubiedern. Stattdessen rollen bedrohliche Riffs auf einen zu, als wäre gerade erst 1990 und das Musikfernsehen noch kein Auffangbecken für blöd grinsende Halbaffen, die nur schwer als Teil der menschlichen Gattung zu identifizieren sind. Diese Band macht sich keine großen Gedanken um den Zeitgeist. Stattdessen verbuddelt sie ihre melodischen Schätze in den Untiefen einer dröhnenden Sphäre aus Lärm und Gitarrenarbeit. Am Ende ist man fast gerührt, dass es anno 2008 wirklich noch möglich ist, ein Album wie dieses zu veröffentlichen. Und freut sich letztlich vor allem ob der Bedrohlichkeit, die viele der Songs ausstrahlen, wenn man sie mit dem gängigen „Indie-Sounds“ in den Diskotheken vergleicht. Ebenfalls bewundernswert ist die Ausdauer des „Basspoeten“ D-Flamed-flame.jpg. Alle Jahre wieder bringt er ein neues Release an den Start. Der Erfolg war ja nicht immer auf seiner Seite. Und auch als Back Up-MC für die reformierten Dynamite Deluxe schien sein Organ oftmals zu ausgeprägt, um lediglich als Ergänzung zu fungieren. „Stress“ ist trotzdem ein gelungenes Album. Natürlich sehnt man sich auch hier immer wieder nach den eisigen Höhen eines Jan Delay oder Marsimoto als Konter für die basslastige Stimme. Nichts desto trotz strotz sein Album nur so vor sonnendurchfluteten Hits, die sich zweifelsohne zwischen zwei Seeed Tracks homogen ins Gesamtbild des „Ich will jetzt meinen Sommer zurück“-Tapes einfügen. Den Rest besorgen dann ein paar exquisite Gast-Takes von Afrob und Samy Deluxe, die auch diesmal wieder für allerhand Freudensprünge bei den Fans von früher sorgen werden. Alles in allem bleibt D-Flame also D-Flame. Und die Hoffnung bestehen, dass er sich irgendwann mit seinem musikalischen Gegenpol Jan Delay zum Battle auf Albumlänge trifft. Womit wir uns dann einfach mal zu Conor Oberst ins Wohnzimmer einladen. Aber Moment. Das ist ja gar nicht der Bright Eyes-Sänger. Das sind A Life, A Song, A Cigarette. Deren Album „Black Air“ beherbergt ähnlich ausgeprägte Gefühlswallungen, wie der Output des a-life-a-song-a-cigarette.jpgschmerzlich genialen Jungen aus Omaha (auch wenn das Platteninfo natürlich das Gegenteil behauptet!). Dieses Werk hier klingt so dermaßen ausgereift, dass man kurzerhand bereit ist, sich vollends in seiner wärmenden Lagerfeuer-Atmosphäre zu verlieren. Dass man dabei keinen Funken abbekommt, der über den Rand der Feuerstelle hinaus schwappt, liegt vorwiegend daran, dass die Scheibe sich versiert durch das Dickicht aus Blues und 60s-Anleihen schlängelt, ohne dabei den Quell ihrer Inspiration aus dem Auge zu verlieren. Tief im Inneren glüht nämlich ein entflammtes Herz aus zauberhaften Popmelodien, die den nächtlichen Spaziergang mit Kopfhörern zum Spektakel aufmotzen. Diese Platte möchte einen entführen. Raus aus der engen Seitenstraße hinauf aufs Dach. Und von dort aus trägt sie einen an all die Orte, an denen das Leben zu pulsieren scheint. Verweilt fernab der Szenerie als Beobachter. Als Schatten. Als Geschichtenerzähler. Und man fühlt sich gefangen. In den Bann gezogen. Ist letztlich vielleicht sogar ein klein bisschen verliebt. Bis man schließlich wieder die Augen öffnet, weitergeht, mit dem Gefühl gerade Teil von etwas ganz Besonderem gewesen zu sein. Alle Fans von harmonisch anmutenderhollymcnarland.jpg Folkromantik mit hohem Pop-Potenzial sollten derweil mal das inzwischen fünfte Album von Holly McNarland antesten. „Chin Up Buttercup“ stolpert genau in die Ecke, die bereits voll besetzt ist mit den üblichen Verdächtigen Marke Norah Jones, Joss Stone und Konsorten. Die Platte tut keinem weh und läuft geradewegs bis zum Ende hin durch, ohne das man sich peinlich berührt fühlen müsste. Soll heißen: hier hat jemand zu sich selbst gefunden – exakt für sich definiert, wie sich seine Musik anhören soll. Dem entspringen zwölf Songs mit geradlinigem, manchmal schwelgerischem Folkpop ohne große Widerhaken. Selbst die elektrische Gitarre in „Dear Pain“ schimmert so unscheinbar vor sich hin, dass man eher an ein gelungeneres Werk von Avril Lavigne denken muss, als an die tief schürfende Konkurrenz aus dem Indie-Lager. Alles in allem also die perfekte Platte, für all diejenigen, die jetzt schon nach neuem Stoff von Alanis Morissette lechzen. Für mich persönlich aber eine Spur zu gleichförmig. Womit wir uns mal zwei Altmeistern ihres Fachs widmen. Fast 30 Jahre hat es gedauert, bis David Byrne & Brian Eno sich erneut ins Studio setzten, um den Nachfolger von „My Life In The Bush Of Ghosts“david-byrne-brian-eno.jpg aufzunehmen. Das dabei entstandene Material entpuppt sich als träumerischer Wellness-Sing-Sang, den man sich nur zu gerne unter den Christbaum legt. Zauberhafter Pop mit Gospelanleihen schleicht sich heran, als wollten die beiden dieses Jahr selbst Weihnachtsmann spielen. Dabei fühlt man sich den Klängen von „Everything That Happens Will Happen Today“ gleich dermaßen zugeneigt, dass man nur umso verzückter ist, wenn sich die beiden auch mal an experimentellen Trance-Zustände heranwagen. Ingesamt strahlen die Lieder eine schwer zu beschreibende, nicht wirklich fassbare Intimität aus. Sie kommen einfach über einen und jedes Mal wenn man sie aus den Augen zu verlieren scheint, kontern sie ihre experimentellen Auswüchse mit einer Prise Schönklang. Dem wiederum haben Egotronic auf ihrem neusten Album weitestgehend abgeschworen. Da werden erstmal kollektiv alle abgewatscht, die sich der anti-deutschen Lyrik der Gruppe nicht vollends unterwerfen. „Kotzen“ möchte die Band, wenn sich die fußballaffine Masse abends zum Länderspiel trifft und die egotronic.jpgNationalmannschaft feiert. Diesmal allerdings geht ihnen nach dieser Ansage nicht die Puste aus. Während man dem Vorgänger über weite Strecken noch vorwerfen konnte, neben den beiden Tanzboden-Füllern „Raven gegen Deutschland“ und „Lustprinzip“ nicht allzu viel Langlebiges an den Start gebracht zu haben. Oder besser gesagt: die Platte lediglich für den famosen Live-Moment konzipiert gewesen zu sein scheint, kann man das aktuelle Werk problemlos durchlaufen lassen, ohne dass man sich genötigt fühlen würde, die Skip-Taste zu betätigen. Die Stücke sind zwar immer noch wie geschaffen im Blitzlichtgewitter des Clubs zu zerschellen, entpuppen sich aber gleichzeitig als wesentlich ideenreichere Exemplare der elektro-stampfenden Gattung. Kurz gesagt: Deichkind-Fans. Mediengruppe-Fans. Bratze-Fans. Frittenbude-Fans. Vereinigt euch! Und dann ballern wir uns zu diesen Atari-Hymnen die Rübe weg. Etwas gemächlicher geht es weiter auf Baby Js neuer Scheibe „Babyfood“. Erstmal ist man wie erschlagen von dem erhabenen „If I Could Do It All Again“ (feat. Jaymay and A Alikes), das zärtlich, fast folkloristisch das Album baby-j.jpgeinläutet. Anschließend allerdings verliert sich das Werk hin und wieder in allzu charttauglichen Gefilden, die Outkast und Gnarls Barkley weitaus besser hinbekommen. Nichtsdestotrotz finden sich unter den unzähligen Featuregästen zahlreiche UK-Poeten und Reimer, die aufhorchen lassen. „Love And Peace“ mit Farma G zum Beispiel atmet diese Kifferromantik, die Snoop Dogg in seinen besten Momenten versprüht. Dazu gesellen sich verquere Raptracks, wie „Jonny“ (feat. Jun Tzu), die wirken, als würden Eminem und ICP zum direkten Duell antreten. Und wenn dann „Hard To Imagine“ (feat. Lowkey und The Crimea) endgültig zum größten Chartsangriff nach The Streets bläst, nickt auch die breite Masse bereitwillig im Takt, nur um sich zu Alex Bloods Smash-Hit „Wake Up“ endgültig abzuschießen. Alles in allem bekommt man hier also eine breite Palette ambitionierter Acts präsentiert. Versiert zusammengeschraubt von Baby J. Insgesamt also ein echter Leckerbissen für all jene, die die Vielfalt der Musikszene nur zu gerne im Gesamtpaket serviert bekommen – aber dennoch großen Wert darauf legen, dass das Ganze homogen verwoben wurde. Womit wir uns abschließend noch mal den verschwurbelten Hymnen von plastica.jpgPlastica zuwenden. Die klingen auf ihrem dritten Album „Kaleidsocope“ wie ein psychedelisches Monster beim Städte platt walzen. Die Handschrift von Produzent Masaki Liu, der unter anderem auch bei Black Rebel Motorcycle Club hinter den Reglern steht, ist unüberhörbar. Die Songs sind wie geschaffen für eine einsame Nachtfahrt durch die Straßen einer Stadt, die sich gerade am Rande des Abgrunds befindet. Stücke, wie „United Lonely People“ und „Memory Lane“ ziehen sich hymnisch in die Breite ohne allzu breitenwirksam zu sein. Manchmal kann man dabei den sanften Einfluss von Sonic Youth spüren – nur eben ohne die Störgeräusche. Stattdessen zünden Plastica immer wieder den Popantrieb und fetzen in der Gegend herum, wie eine geöffnete Packung Popcorn im Mikrowellendauerfeuer. Dazu streicht einem ein sanfter Hauch 60s-Nostalgie durchs Haar – also vergräbt man sich in der wohligen Wärme seines Autositzes und lauscht gebannt dem LSD-beeinflusstem Treiben auf der Leinwand. Zumindest bis zum nächsten Zuckerbeat.

// von: alexander nickel-hopfengart