// grünes rauschen

„Ich sehe hübsch aus,“ flüsterte Fleur ihrem Spiegelbild zu. Sie stand vor der Schaufensterscheibe eines Bestattungsunternehmens. Fleur betrachtete aber nicht die Särge und Fotos von kalkweißen Mumien, die ausgestellt waren, sondern sie war rein zufällig hier. Ihr Herz pumpte schnell unter ihrer dünnen Brusthaut. Die Großmutter hatte zu Fleur beim Wälzen der Hühnerbrüstchen im geschlagenen […]

„Ich sehe hübsch aus,“ flüsterte Fleur ihrem Spiegelbild zu. Sie stand vor der Schaufensterscheibe eines Bestattungsunternehmens. Fleur betrachtete aber nicht die Särge und Fotos von kalkweißen Mumien, die ausgestellt waren, sondern sie war rein zufällig hier. Ihr Herz pumpte schnell unter ihrer dünnen Brusthaut. Die Großmutter hatte zu Fleur beim Wälzen der Hühnerbrüstchen im geschlagenen Eidotter immer zusagen gepflegt, dass ihre Haut zart wäre wie diese Hühnerbrüstchen. Fleur lächelte. Die Großmutter hätte ihr geraten, die Haare nicht hochzustecken. Denn so wirkte Fleur zerbrechlich wie chinesisches Porzellan.
„Ich habe es eben getan,“ sagte Fleur zu ihrem Spiegelbild. „Ich kann auch mit hochgesteckten Haaren stark sein. Das werde ich dir zeigen!“ Es war ihr, als ob das Spiegelbild den Kopf schüttelte. „Du glaubst mir nicht?“ murmelte Fleur. „Sieh her!“ Sie holte aus ihrer Manteltasche ein Zugticket und einen kleinen Schlüssel. „Weißt du, wohin der fährt? Das ist der Nachtzug nach Verona. Im Schließfach neunundvierzig steht mein Koffer.“ Das Spiegelbild ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern steckte eine Haarsträhne, die sich aus dem Knoten gewunden hatte, wieder zurück. Es wiegte den Kopf und zeigte dann die Straße hinunter. Fleur schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist die falsche Richtung! Ich kann dich nicht überzeugen, was? Du wirst sehen! Ich bin in einer halben Stunde zurück und dann fahren wir nach Italien. Mach es dir nur gemütlich. Ade!“
Fleur sprang die Straße hinunter, die zum Plaza de Cologne führte.
Dort betrat sie ein kleines Café, das stets brechend voll war, weil es für seinen scharf gerösteten Kaffee und die Kellner, die mit weißen Handschuhen servierten, berühmt war. Natürlich durfte man nicht das große Aquarium vergessen bei der Theke, in dem sich glupschäugige Plötzen, Langusten, hauchdünne Flundern und bunte Südseeschnecken tummelten.
Fleur schlüpfte durch die Tür. Sie blieb bei der Garderobe stehen und versteckte sich hinter einem Nerzmantel. Der roch nach Patschuli. Das Café war in einen bläulichen Nebel getaucht. Zigarettenrauch, Staub und Wortfetzen wurden vom Sonnenlicht durchbrochen. An einem abgewetzten Mahagoniklavier klimperte ein Pianist. Seine kleinen Liedchen gingen im Summen der Unterhaltungen ungehört unter. Fleur überkam ein sanftes Mitleid mit den armen Tönen, die verschluckt wurden.
Sicher hinter dem Nerzmantel versteckt – oder vielleicht Märzhasenfell? Sie erinnerte sich an ein Märchen, dass ihr die Großmutter einmal vorgelesen hatte. Der Prinz hatte einen Mantel aus Märzhasenfell getragen -, durchforschten ihre Augen den Caféraum. Sie suchte ihn. Öfters, wenn sie sich trafen, beobachtete sie ihn zuerst ein Weilchen, um zu sehen, wie er aufgelegt war, bevor sie sich zu ihm setzte. War er schlecht gelaunt, kratzte er sich im Nacken und dann musste sie aufpassen, dass sie die meisten ihrer Gedanken bei sich behielt, denn er reagierte verständnislos und gereizt. Fühlte er sich wohl, fuhr er durch seine blonden Locken. Dann konnte sie ihm von den wunderbaren Träumen erzählen und von ihrem Spiegelbild. Er hörte belustigt zu, nahm sie aber nicht ernst. Manchmal sagte er, dass sie narzisstisch veranlagt sei. Sie pflegte dann zu antworten, dass man dieses auch zu ihrer Großmutter gesagt habe. Narzissmus gehörte zu ihrem Familiengut eben dazu.
Während sie nach seinem Gesicht, Rücken oder Flanke Ausschau hielt, hoffte Fleur, dass er Anzeichen von Nervosität zeigen würde, wenigstens Anspannung, flatternde Augenlider.
Es dauerte, bis sie glaubte, seinen Rücken in der Menge der Cafébesucher ausgemacht zu haben. Er trug ein neues Jackett und hatte sich mit dem Rücken zum Eingang gesetzt, als ob er ihr Beobachten erahnt hatte. Fleur überlegte, ob sie einmal in einem unbedachten Nebensatz ihm gegenüber ihre Beschäftigung erwähnt hatte. Aber sie glaubte, dass dies nicht der Fall gewesen war. Hier handelte es sich wohl um Zufall.
Es war schwierig ihn für längere Zeit zu beobachten, da sein Tisch in der Mitte des Cafés stand und ununterbrochen Personen vorbeikamen und Fleur den Blick abschnitten. Er hatte seine blonden Locken mit Pomade geglättet, was er selten tat, eigentlich nur bei wichtigen Anlässen. Fleur schwankte zwischen Triumph und Angst.
Schwungvoll führte er die Zigarette zum Mund und ließ den Arm dann wie eine Schiffschaukel zurückrauschen. Er warf den Kopf zurück, um den Rauch in die Luft zu blasen. In seiner Bewegung lag Wut, dachte Fleur. Er war ungehalten, weil er nicht wusste, was kommen würde.
„Ich bin stark,“ ermutigte sich Fleur. Schon wollte sie ihr Versteck verlassen, als die Tür des Cafés aufging und ihr ein Duft in die Nase stieg von Apfel, Zimt und Limone. Fleur schüttelte sich angewidert, nicht wegen dem Duft, sondern wegen der Erinnerung, die in ihr aufstieg wie eine Rauchschwade von einem gelöschten Feuer. Valerie! Sie sah, wie eine Frau mit roter Lockenmähne auf seinen Tisch zusteuerte. Valerie, von ihm noch nicht entdeckt, hauchte ihm einen Kuss in den Nacken. Er drehte sich um und drückte sie herzlich an sich. Fleur schmeckte etwas Saures auf der Zunge.
Es war nicht eine kleine Einbildung, der sie verfallen war. Andere hatten sie vor geraumer Zeit darauf angesprochen, dass er und Valerie sich außergewöhnlich gut verstanden. Dabei war Valerie seine Cousine. Auf einer Hochzeit hatte ein Onkel dritten Grades ihr angedeutet, dass man über die beiden redete. Aber Fleur hatte die Geschichte nicht hören wollen. Sie hasste es, die Geister der Vergangenheit herauf zu beschwören. Denn schließlich sollten ihre eigenen auch begraben bleiben.
Er hatte Valerie aus dem Mantel geholfen. Wie zwei Verschwörer saßen sie an dem Tisch und tuschelten mit einander. Valerie lachte laut, während sie ihre rote Mähne zu einem Zopf drehte. Sie deutete auf eine Stelle an ihrem Hals, die Fleur nicht sehen konnte. Er machte eine seltsame Geste in der Luft. Dann fiel seine Hand wie zufällig auf ihre Schulter und streichelte sanft die Haut. Wie ein Liebespaar und ganz in sich versunken, dachte Fleur.
Sie verließ ihr Versteck, ging aber nicht zu ihm und Valerie, sondern suchte die Toilette auf. Dort blickte sie in einen angelaufenen Spiegel. Ihr Spiegelbild schaute sie hämisch an und deutete auf ihre Lippen, die dünn waren und ohne Lippenstift dürr wirkten. „Ich schaff es,“ sagte sie streng. „Das wollte ich dir nur kurz sagen. Valerie ist gekommen, um ihn zu verstärken, aber ich lass mir keinen Schreck einjagen! Bin ich ein Angsthase?“ Ihr Spiegelbild nickte. Fleur versuchte es zu übersehen. „Ich würde dich gerne mitnehmen, aber du hast sicherlich zu tun,“ sagte sie zu ihrem Spiegelbild. „Du könntest mir wenigstens Mut zusprechen.“ Ihr Spiegelbild zuckte die Achseln und drehte sich von ihr weg. „Was?“ rief sie zornig. „Du gibst mich auf?“ Das Spiegelbild machte sich zum Horizont des Spiegels auf. Es wurde immer kleiner, bis es verschwunden war, irgendwo zwischen graubläulichen Kachelritzen. Die Spiegelfläche war jetzt unbelebt. „Ich bin stark,“ flüsterte Fleur und ging zurück ins Café.
Mit starkem Schritt marschierte sie auf den Tisch der beiden zu.
„Guten Morgen,“ rief Fleur fröhlich.
Sie ignorierte den Gedanken, dass Valerie und er sich ertappt fühlten. Viel zu schnell sprang er auf, um sie zu küssen. Fleur versuchte den Geruch von Apfel, Zimt und Limone, der an seiner Kleidung hing, nicht zu beachten.
„Fleur, wie schön, dass du gekommen bist. Valerie hatte Zeit und ihr habt euch so lange nicht mehr gesehen. Darf ich dir etwas bestellen?“
Fleur starrte feindselig auf die Schwarzwälderkirschtorte, die ein Kellner vor Valerie stellte.
„Du siehst wunderbare aus, Fleur. Hast du deine Haare gefärbt?“ fragte Valerie.
Fleur nickte.
„Ich finde, dieses Blond steht dir fantastisch. Das Braun vorher hat dich bleich gemacht. War das deine Idee?“
Er setzte Fleur wie eine Gliederpuppe auf einen Stuhl. „Ich hatte gemeint, dass ihr vielleicht Blond stehen würde. Sie sieht wunderbar aus, nicht wahr?“
„Ja. Aber sie sollte die Haare offen tragen. So wirkt sie wie meine alte Französischlehrerin. Oh!“ Sie wandte sich ihm zu. „Erinnerst du dich noch an die Madame?“ Über sein Gesicht flog ein mehrdeutiges Lächeln. Fleur blickte zu Boden. Valerie und er liebten es, Geschichten aus der Vergangenheit aufzuwärmen und zusammen noch einmal zu erleben.
„Fleur. Willst du etwas trinken?“
„Ich habe nicht so viel Zeit.“
„Dann nicht, Darling. Du siehst blass aus. Hast du viel zu tun?“
„Wenig.“ Sie machte eine Pause und fühlte, wie schwer ihr die Worte im Magen lagen.
„Ich war beim Arzt.“
Valerie setzte sich aufrecht, in Abwehrposition. In ihrer dunkelgrünen Jacke wirkte sie wie eine Jägerin. Er schaute sie mit einem durchdringen Blick an.
„Ich bin schwanger,“ sagte sie. Valerie und er sprangen gleichzeitig auf, um sie zu umarmen. Sie wusste, dass sie sich hinter ihrem Rücken mit Blicken absprachen, was als nächstes zu tun sei.
„Ich werde sofort Mutter anrufen! Sie wird außer sich vor Freude sein,“ sagte er und sprang davon.
„Wie unglaublich, Fleur. Ich freue mich so sehr für dich. Wann wollt ihr heiraten?“
Fleur blickte zu Boden, ob sich nicht dort hilfreiche Worte anboten.
„Juni, nicht wahr? Alle in unserer Familie heiraten im Juni. Ich auch einmal, wenn ich den Richtigen gefunden habe. Schloss Bergholm, oder?“ Fleur überlegte, wie sie am besten die Worte, Silbe um Silbe, platzierte. In ihr schwamm ein dunkler Wust an Buchstaben, die nur getrennt werden mussten. Valerie zwinkerte ihr lustig zu. „Du schaust so furchtbar ernst. Ist es etwa von einem anderen?“ Das hätte ihn und Valerie nur gefreut, dachte sie traurig. Sie schüttelte entschieden den Kopf.
„Du musst in Cremefarbe heiraten. Schon unsere Urgroßmutter hat in Cremefarbe geheiratet. Lass dir bloß nicht Schneeweiß oder dieses moderne Flieder einfallen. Das gäbe einen Familienskandal.“
Er kam wieder zu ihnen zurückgesprungen. „Mutter ist begeistert, meine kleine Elfe.“ Er machte eine Pause und flötete dann: „Ich werde Vater! Und die schönste Frau der Stadt ist die Mutter von meinem Kind. Ich werde wahnsinnig!“ Würde er es doch nur tatsächlich werden wollen! dachte Fleur betrübt. Wenn er nur einen kleinen Schritt in den mystischen Zwischenraum wagen würde! Fleur setzte zu dem Satz an, der sich endlich in ihrem Kopf geformt hatte, doch Valerie unterbrach sie.
Während Valerie auf sie einredete, warf Fleur ihm einen Seitenblick zu. In seinem weichen Gesicht lag blanker Triumph. Da wurde ihr schlagartig bewusst, dass es verschiedene Existenzen gab und jeder zu etwas verdammt war. Sie war ein kleines Hühnchen, wie schon damals ihre weise Großmutter es ihr gesagt hatte. Er war ein Fuchs. Nie würde sie kleines Hühnchen seinem Bau entwischen können. Es war ihre Bestimmung einem Fuchs zu gehören.
„Ich muss gehen,“ sagte sie plötzlich und stand auf. „Ich muss weg, ein Termin.“ Und ohne, dass er oder Valerie noch etwas hätten sagen können, war sie aus dem Café entwischt. Draußen auf der Straße, wo ein kalter Nordwind ihre Beine umwehte, holte sie das Zugticket aus der Manteltasche und riss es in kleine Schnippselchen. Die Papierfetzen wurden vom Wind verweht. Ich eigne mich nicht für Abendteuer und selbstständige Gedanken!
Sie hatte ihrem Spiegelbild versprochen, es bei dem Bestattungsunternehmen abzuholen, aber sie hatte Angst, erfolglos zurückzukehren. Also, lief sie in entgegengesetzte Richtung, wo der Spittelberg lag. Der Spittelberg war ein Viertel voller Leben und kleinen Geschäftchen. In der Vergangenheit hatte sie oft diese Gegend aufgesucht, von der eine tröstende Wirkung ausging. Sie folgte einer schmalen Gasse bergauf. Bald befand sie sich mitten im Spittelbergleben. In einem geöffneten Fenster auf der Fensterbank stand ein rundes Goldfischglas, das an einen Astronautenhelm erinnerte. Darin schwamm ein Goldfisch, der Fleur, als sie stehen blieb, mit großen Augen anstarrte. In seinem Blick lag völlige Ausdruckslosigkeit. Er schien zu fragen, warum sie so unglücklich drein schaute.
Eine rote Tigerkatze saß neben dem Glas und fischte mit der Tatze nach dem Goldfisch, der aber regungslos am Grund verharrte.
„Ich habe Angst vor meinem Spiegelbild,“ sagte sie, „weil es mich besser kennt als ich mich selbst.“
Da sie den klugen Ratschlag des Goldfischs nicht abwarten wollte, lief sie schnell weiter.
Sie kam an einem Hinterhof vorbei, wo ein fetter Metzger stand und Messer schleifte. Zu seinen Füßen in Bottichen befand sich Fleisch. Ein schäbiges Hündchen kroch immer wieder heran, um ein Fleischstückchen zu stehlen. Jedes Mal schleuderte der Metzger ein Messer nach dem Tier, traf es aber nie.
Vor einem Gemüseladen ordnete ein Händler liebevoll seine Auberginen und war gänzlich in diese Beschäftigung versunken.
Unter einem Kastanienbaum stand ein Rollstuhl mit einem alten Mann. Der Greis schlief mit offenem Mund. Der Wind hatte die Wolldecke von seinen Knien gefegt. Von den Ästen der Kastanie tropfte Wasser, aber es störte den schlafenden Mann nicht. Es rann verstohlen über sein Gesicht.
Fleur, die bald sich und ihr Spiegelbild vergessen hatte, sprang durch die herrliche Spittelbergwelt.
Die Häuser wurden schlanker und höher, rückten enger an einander. Hohe Schornsteine verengten sich in den blauen Himmel. Ihnen entstiegen gerade, bisweilen auch kräuslige Rauchsäulen. Den Kopf in den Nacken gelegt, sah Fleur den Möwen und Krähen zu, die mit einander zankten. Zwischen drin segelte ein Luftballon vorbei, der wunderbarer Weise nicht von den spitzen Schnäbel der kämpfenden Vögel getroffen wurde.
Fleur fühlte sich anders, als ein großes Etwas, das Teil hatte an einer wunderbaren Geschichte. Sie war nicht eingeengt und kein Individuum, sondern vielmehr ein Entwurf auf einem Blatt Papier. Dieser Gedanke machte sie glücklich. Es nahm die Schärfe aus ihrem Leben weg. Plötzlich kam ihr alles künstlich vor. Segelten die Vögel nicht ruckartig am Himmelszelt, als ob sie an unsichtbaren Fäden gezogen wurden? Von irgendwoher drang hohes Geigengefidel an ihr Ohr. Konnte sie nicht, wenn sie nur das richtige Wort fand, den Geiger rückwärts fideln lassen?
Da hörte sie plötzlich einen schrillen Schrei, drehte sich um und sah, wie sich in einem cremefarbenen Brautkleid, mit einem hauchdünnen Schleier über dem blonden Haar und leuchtend blauen Blümchen dazwischen, ein junges Mädchen über eine Balkonbrüstung aus dem dritten Stock stürzte. Die Luft war von Schreien und Rauschen erfüllt. Einen Moment lang sah Fleur den Blick des Mädchen, bevor dieses auf dem Pflaster aufschlug, und ihr wahr, als ob sie selbst dort hinab gefallen war. Wie wenn die letzte Stunde nicht gewesen wäre, sie diese nur geträumt hatte.

Fleur starb beim Aufschlagen auf dem Gehsteig.
Ihr Genick brach.
// von johanna schricker