// aufgelesen vol. 12 – „all diese kreuzfahrten umgibt etwas unerträglich trauriges“

All jene, die sich „irgendwie dazwischen“ fühlen, sollten zum neuen Roman von Katja Kullmann greifen. Die beschreibt in „Echtleben“ was passiert, wenn man irgendwann aufwacht und feststellt, dass die eigenen Ideale inzwischen vom Massenmarkt infiltriert wurden. Mit ihrem Buch möchte sie letztlich herausfinde, „Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben“. Gleich zu […]

kullmannAll jene, die sich „irgendwie dazwischen“ fühlen, sollten zum neuen Roman von Katja Kullmann greifen. Die beschreibt in „Echtleben“ was passiert, wenn man irgendwann aufwacht und feststellt, dass die eigenen Ideale inzwischen vom Massenmarkt infiltriert wurden. Mit ihrem Buch möchte sie letztlich herausfinde, „Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben“. Gleich zu Beginn versucht sie das Lebensgefühl einer ganzen (digitalen) Generation in eine Seite zu packen, was in einer grandiosen These gipfelt: „Wir versuchen, uns selbst und den anderen von der Wirklichkeit zu erzählen. Damit wir sie so vielleicht irgendwie zu fassen kriegen“. Es dreht sich also alles um Sinnsuche und eben deshalb ist dieser Roman so bemerkenswert. Die rasante Lesegeschwindigkeit sorgt dafür, dass man sich wie in einem Rausch durch die einzelnen Kapitel wühlt. Im Grunde genommen hat sie zwar auch kein Patentrezept dafür, wie man es besser machen könnte, stattdessen aber allerhand zu meckern, was wiederum dazu führt, dass man als Leser aus dem Grinsen gar nicht mehr herauskommt. Die Autorin schert sich einen feuchten Dreck darum, ihre Leser zu belehren. Dieses Buch möchte keine Tipps fürs Leben mitgeben und bringt einen gerade deshalb ins Grübeln. Am Ende fühlt man sich seltsam befreit, obwohl man als Leser kein Deut klüger ist als zuvor. Es wurde nur einfach mal ausgesprochen, was nervt.

foster-wallaceWer bisher noch nicht die Gelegenheit hatte, mit einem großen Kreuzfahrtschiff auf dem Meer herumzuschippern, sollte sich jetzt die neu aufgelegte Fassung von „Schrecklich amüsant – Aber in Zukunft ohne mich“ von dem leider viel zu früh verstorbenem Autor David Foster Wallace zu Gemüte führen. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass der Autor lange unter Depressionen litt, auf jeden Fall ist der Roman eine einzige Abrechnung mit der schillernden Fassade, die wir uns gerne vor Augen führen lassen, obwohl wir doch genau wissen, dass das alles mehr Schein als Sein ist. Foster Wallace entlarvt in seinem Roman das freundliche Getue an Bord des Dampfers als funktionales, gefühlskaltes Muster (oder Monster), das nur dazu generiert wurde, den Konsum an Bord zu fördern. Kein Wunder, dass er sich mit zunehmender Dauer immer mehr in seine Kabine verzieht. Gleichzeitig macht er deutlich, wie wir Menschen funktionieren. Als nämlich plötzlich ein noch prächtigeres Schiff auftaucht, wird sogar so etwas wie Neid beim Protagonisten spürbar. Obwohl wir es eigentlich besser wissen müssten, beginnen wir mit dem Lattenmessen. Darüber hinaus nimmt er die routinierten Abläufe an Bord unter die Lupe. Wenn er zum Beispiel versucht eine Putzkraft dabei zu erwischen, wie sie sein Zimmer säubert (was immer nach einem festgesetzten Zeitraum geschieht), er es aber trotz minutiöser Planung nicht schafft, Selbige auch nur ein einziges Mal in Aktion zu erleben, darf man schon mal ein bisschen paranoid werden. Es ist einfach nur „schrecklich amüsant“ diesen Roman zu lesen. Noch dazu, weil die Neuauflage aus dem Hause „mare“ um ein imposantes Vorwort von Georg Dietz erweitert wurde. Darin findet sich unter anderem ein sehr aussagekräftiges Interview mit dem Autor, das bereits 2007 in der „Zeit“ erschienen ist und für sich allein genommen schon den Kauf rechtfertigen würde.

o_neill_tony„Willkommen in Sick City“ brüllt uns derweil der New Yorker Autor Tony O´Neill entgegen und wir halten nur zu gerne für einen Augenblick inne, um uns seinen gleichnamigen Schmöker aus dem Hause „Walde + Graf“ zu Gemüte zu führen. In dritten Roman des „Digging The Vein“-Schreibers dreht sich alles um zwei abgedreht Junkies, die ein altes Sextape in die Finger kriegen, auf dem Sharon Tate eine wilde Orgie veranstaltet. Selbiges will natürlich zu Geld gemacht werden. Womit wir auch schon mittendrin wären in diesem famosen Pop Art-Ballerspiel, das sich als Buch maskiert. Mit freundlicher Unterstützung des Typografen Michel Casarramona macht sich der Autor daran, einen famosen Cocktail aus Pulp- und Comic-Kunst zusammenzubasteln. Die hübschen Bildchen sorgen für Abwechslung und lassen die sowieso schon kurzweilig getexteten Zeilen noch eine Spur hurtiger an den Augen der Leserschaft vorbeizischen. Fans von „Kill Your Friends“ dürften dabei aufgrund der expliziten Wortwahl des Autors genauso auf ihre Kosten kommen, wie Anhänger des Frühwerks von Quentin Tarantino. Hat man sich nach einigen Seiten dann erst einmal auf diesen verspulten Drogenrausch in Textform eingelassen, kommt man vor dem grandiosen Finale nicht mehr aus der Sache raus. Wobei eigentlich schon das elegante Artwork allein den Kauf dieses Romans rechtfertigen würde. Ich habe jedenfalls lange kein Buch mehr gesehen, wo Inhalt und Verpackung so eine perfekte Melange miteinander eingehen.

rossAdam Ross hat man hierzulande noch nicht unbedingt auf dem Zettel, wenn es um massentaugliche und gleichzeitig anspruchsvolle Literatur geht. Mit seinem aktuellen Roman „Mister Peanut“ könnte sich das ändern. Die Geschichte dreht sich um den Tod einer gewissen Alice. Ihr Mann David steht im Verdacht, sie ermordet zu haben. Im Grunde genommen gelingt Ross mit seinem Roman eine literarische Verbeugung vor Altmeister Alfred Hitchcock. Immer wieder führt er seine Leser an der Nase herum, indem er im Rahmen des Verhörs zwei Kriminalbeamte die Facetten der komplexen Ehe von Alice und David durchleuchten lässt. Wobei es besonders bemerkenswert ist, dass sich dabei zwei Spannungsfelder aufbauen. Man weiß gar nicht so recht, was man als Leser jetzt interessanter findet. Die Aufklärung des Mordes oder die Beziehung des Paares. Dass Ross dieser Spagat über die Distanz von 491 Seiten mühelos meistert, ist bemerkenswert. Man fühlt sich von seinem Roman wie in einen Sog gerissen und möchte das Buch nicht mehr zur Seite legen, bis es ausgelesen ist. Schon allein die ersten Zeilen deuten darauf hin, dass sich hier etwas Großes anbahnt: „Als David Pepin zum ersten Mal von der Ermordung seiner Frau träumte, trat er nicht selbst als Täter auf. Er träumte von höherer Gewalt im richtigen Augenblick. Als sie am Strand picknickten, zog eine Gewitterfront heran. David und Alice packten ihre Liegestühle, Decken und alkoholischen Getränke zusammen und als der erste Blitz am Himmel zuckte, stellte David sich seine Frau vor wie in einem Cartoon, als lebende Fackel mit durchscheinenden Skelett, das schließlich zu einem rauchenden Häuflein Asche zusammenfiel“. Famos… „Mister Peanut“ ist ein Roman der Sonderklasse. Und für Krimi-Fans wie Therapeuten gleichermaßen interessant.

wilsonWer sich am Ende mal ein bisschen von dem immergleichen Moderatorenbrei erholen möchte, den so mancher Fußball-Experte bei den Spielen im TV ohne einen Anflug von Kreativität herausposaunt, der sollte sich den schicken Schmöker namens „Revolutionen auf dem Rasen“ aus dem Verlag „Die Werkstatt“ zu Gemüte führen. Der grüne Almanach enthält nämlich „die Geschichte der Fußballtaktik“ und erklärt seinen Lesern in anschaulichen Beispielen die unterschiedlichsten Ansätze, wie man das Elf gegen Elf auf dem grünen Nass für sich entscheidet. Alte Plattitüden werden dabei über die volle Länge ausgespart. Stattdessen geht der Schmöker ans Eingemachte. Wo hat Louis van Gaal sich eigentlich seine taktischen Kniffe abgeschaut? Und warum kommt keiner an den Ball, wenn der FC Barcelona den Turbo einschaltet? Autor Jonathan Wilson widmet sich in diesem Zusammenhang auch ausführlich der guten, alten Zeit, macht Entwicklungen deutlich und gibt einem noch dazu das Gefühl, wirklich etwas über das Spiel selbst vermitteln zu können. Deshalb empfehle ich in Zukunft einfach auf diverse Nachberichterstattungen zu verzichten und sich stattdessen diesen Wälzer zu Gemüte zu führen. Danach hat man dann auch verstanden (oder meint zumindest, man wüsste), warum Dortmund in diesem Jahr Meister geworden ist… also schmökert mal rein. Ist ja gerade Frauenfußball-WM. Mit diesem „Fachbuch“ bist du bestens dafür gerüstet. Und damit Schluss für heute. Lasst es euch gut gehen. Wir „lesen“ uns.