// aufgelesen vol. 45 – „nicht nur die zeit war in aufruhr…“

mit neuen Büchern von John Niven, Jürgen Teipel, Viola Di Grado, Jean-Michel Guenassia und Sergej Minajew. // Nachdem uns John Niven bereits vor geraumer Zeit mit seinem „Kill Your Friends“-Update „Gott bewahre“ beglückt hat, wirft er nun schon wieder ein neues Buch auf den Markt. „Music From Big Pink“ ist in diesem Zusammenhang zwar nicht […]

mit neuen Büchern von John Niven, Jürgen Teipel, Viola Di Grado, Jean-Michel Guenassia und Sergej Minajew.

john-niven// Nachdem uns John Niven bereits vor geraumer Zeit mit seinem „Kill Your Friends“-Update „Gott bewahre“ beglückt hat, wirft er nun schon wieder ein neues Buch auf den Markt. „Music From Big Pink“ ist in diesem Zusammenhang zwar nicht ganz so umfangreich, wie die Schmöker zuvor, lesenswert aber ist der Roman allemal. Das liegt auch daran, dass sich der Autor wie schon in „Kill Your Friends“ seiner Paradedisziplin widmet. Er nimmt ein Stück Zeitgeschichte und dichtet sie anschließend ein klein wenig um. In diesem Fall schnappt er sich den Albumklassiker „Music From Big Pink“ von der Gruppe The Band und erfindet kurzerhand eine eigene Entstehungsgeschichte dazu.

Das ist nicht nur frech, das funktioniert auch überraschend gut und dürfte jedem Rockmusik-Fan das eine oder andere Schmunzeln ins Gesicht zaubern. Die Geschichte selbst dreht sich hauptsächlich um den kleinen Drogendealer Greg Keltner, der nebenbei selbst Musiker ist und in New York lebt. Zusammen mit seinem Freund Alex zieht er eines Tages nach Woodstock und heftet sich an die Spuren von The Band und deren Manager Albert Grossmann. Während er die Jungs schließlich mit dem heißesten Scheiß an illegalen Substanzen versorgt, darf er auch den Studioaufnahmen des The Band-Klassikers lauschen und findet sich plötzlich mittendrin wieder in seiner eigenen, großen „Musikgeschichte“. John Niven gelingt es mit „Music From Big Pink“ den vielen Geschichten um Bob Dylan und seine Musik eine weitere hinzuzufügen, ohne dass es irgendwie gestellt anmuten würde. Das schönste aber ist, dass man nach dem Lesen des Buches fast zwangsläufig zur Musik greifen möchte, um diese legendäre Platte noch einmal aufs Neue für sich zu entdecken.

jurgen-teipel// „Verschwende deine Jugend“ von Jürgen Teipel hat inzwischen schon elf Jahre auf dem Buckel. Doch bis heute hat das Werk des ehemaligen Herausgebers der Punkzeitschrift „marionett“ nichts von seinem Reiz verloren. Eigentlich ist „Verschwende deine Jugend“ gar kein Buch im eigentlichen Sinn. Es ist vielmehr eine Collage der unterschiedlichsten Meinungen von zahllosen Protagonisten aus dem Punkrock-Bereich. Das größte Wunder in diesem Zusammenhang ist es, dass es Teipel tatsächlich gelingt diesen Wust an Anekdoten und Geschichten in eine richtige Erzählung zu verwandeln. In „Verschwende deine Jugend“ finden sich Zitate von über 100 Protagonisten und Teipel würfelt sie so zusammen, dass sie wie aus einem Guss erscheinen. In diesem Zusammenhang werden nicht nur die zahllosen Widersprüche in den Geschichten der einzelnen Interviewpartner deutlich, es entsteht auch ein äußerst differenziertes Bild einer Jugendkultur, die bis heute weiterlebt. Neben bekannten Musikerin wie Campino, Blixa Bargeld und den Fehlfarben kommen dabei auch zahlreiche Menschen zu Wort, die heute außerhalb der Szene schon lange in Vergessenheit geraten sind. Darüber hinaus wurde dem Werk neben einem funkelnagelneuen Outfit, auch noch ein aktuelles Vorwort verpasst. Wer sich ernsthaft mit der Geschichte von „Punk“ und „New Wave“ auseinander setzen möchte, kommt an diesem Werk nicht vorbei. Und sollte sich hinterher vielleicht gleich noch das Buch „Der Klang der Familie“ nach Hause holen, das einen ähnlichen Ansatz fährt und ebenfalls von Jürgen Teipel begleitet wurde.

viola-digrado// Eine junge, italienische Autorin Anfang 20 wickelt uns derweil mit ihrem aktuellen Roman „Siebzig Acryl, dreißig Wolle“ um den Finger. Viola Di Grado aus Sizilien wurde im vergangenen Jahr in ihrem Heimatland bereits mit zahlreichen Preisen überhäuft. Ihr Werk dreht sich um eine 19jährige namens Camelia, die es sich in ihrer Rolle als Querulantin gemütlich gemacht hat. In Leeds muss sie sich mit ihrer traurigen Mutter eine Wohnung teilen, die immer noch am Unfalltod ihres Mannes zu knabbern hat. Die Konsequenz davon ist, dass Camelias Mutter kein noch so klitzekleiner Laut mehr über die Lippen kommt. Stattdessen versucht sie sich als Fotografin von irgendwelchen Löchern aller Couleur (also wirklich allem, was irgendwie einem Loch gleichkommt). Im Antlitz der Einöde ihres Daseins erscheint Camelia schließlich ein Licht am Ende des Tunnels. Ein junger Chinese taucht auf und durch ihre Liebe zu ihm findet die junge Erwachsene Schritt für Schritt ins Leben zurück. Auf den ersten Blick könnte man „Siebzig Acryl, dreißig Wolle“ als typische Coming-Of-Age-Geschichte abtun, welche die üblichen Klischees des Genres durchdekliniert. Doch schon auf den ersten Seiten wird deutlich, dass man dem Buch damit unrecht tun würde. Die poetische Sprache, die gekonnten Vergleiche, man merkt, dass sich hier jemand wirklich ausgetobt hat, der auch noch in sprachlicher Hinsicht etwas auf dem Kasten hat. Viola Di Grado gelingt es mit einfachsten Mitteln den Lesern ihre Hauptfigur nahezubringen. Und man kann nur hoffen, dass sich ihr kreatives Potenzial auch in ihren weiteren Romanen wiederspiegelt. Ein eindrucksvolles Debüt.

guenessia// Einen echten Sommerroman bekommt man derweil von dem 1950 in Algier geborenen Schriftsteller Jean-Michel Guenassia präsentiert. Sein Werk wurde nicht nur mit dem renommierten „Prix Goncourt des lycéens“ ausgezeichnet, er eignet sich auch als optimaler Reisebegleiter für den nächsten Frankreich-Urlaub. So lässt man sich von dem Autor entführen ins Paris der 60er Jahre. Dort treffen wir auf einen gewissen Michel, 12 Jahre jung, der sich daran macht, das kulturelle Leben der Stadt in sich aufzusaugen. Ob vor der Kinoleinwand oder in den Cafés der Stadt. Michel genießt sein Leben in vollen Zügen und alles wird noch ein bisschen besser, als er auf den sogenannten „Club der unverbesserlichen Optimisten“ trifft. Das ganze Leben scheint plötzlich ein einziger großer Rausch zu sein, der niemals endet. Wäre da nicht die gute alte Liebe, die Michel plötzlich einen Strich durch die Rechnung macht. Der Roman von Jean-Michel Guenassia ist in diesem Zusammenhang zwar nicht frei von Sentimentalitäten, doch er nimmt einen dennoch gefangen, weil er glaubwürdig ist. Man fühlt sich plötzlich wie in einer anderen Welt, während man sich durch die Seiten dieses Werks gräbt und immer tiefer in der Handlung versinkt. „Der Club der unverbesserlichen Optimisten“ ist ein Buch von dem man regelrecht verschluckt werden möchte. Also schnuppert mal rein.

minajew// Als wirklich exzessives Vergnügen entpuppt sich der aktuelle Roman des russischen Autors Sergej Minajew. „Neonträume“ führt uns dorthin, wo das Leben im Schnelldurchlauf an einem vorbei zieht. Es erzählt die Geschichte von Andrej Mirkin, Mitte zwanzig, der unablässig auf der Suche nach dem nächsten großen Kick ist. Ob Koks oder schneller Sex. Er stolpert unablässig durchs Moskauer Nachtleben und der Rausch scheint einfach kein Ende zu nehmen. Parallel dazu führt er auch noch gleichzeitig zwei Beziehungen mit der Businessfrau Lena und der partylustigen Rita. Zum großen Crash kommt es, als ihm Rita offenbart, dass sie Aids hat. Kurz darauf droht sein komplettes Leben in die Brüche zu gehen und Andrej hat keine Ahnung, wie er den Absturz noch verhindern soll. Sergej Minajew gelingt mit seinem Roman eine glaubwürdige Darstellung eines Lebens am Limit. Er führt in diesem Zusammenhang aber auch knallhart vor Augen, was der Preis für den ewigen Hang zum Exzess ist. Am Ende kann seine Hauptfigur Andrej nur hoffen, dass er aus all dem noch einmal lebend heraus kommt. Ob sich der Protagonist aus den Trümmern seines Daseins zu befreien vermag oder von der Last erdrückt wird. Am besten du findest es selbst heraus. Es lohnt sich. Und damit Schluss für heute. Bis zur nächsten Leserunde.