// aufgelesen vol. 15 – „neues schaffen heißt widerstand leisten. widerstand leisten heißt neues schaffen.“

Stéphane Hessel war nicht nur ein angesehener Diplomat, sondern kämpfte auch in der französischen Résistance. Mit seiner Streitschrift „Empört euch!“ hat er das wahrscheinlich wichtigste Werk zu den Demonstrationen verfasst, welche derzeit in vielen europäischen und arabischen Städten stattfinden. Die vorwiegend jungen Menschen gehen reihenweise auf die Straße um gegen die eigene Perspektivlosigkeit zu rebellieren. […]

stephanhessel_engagierteuchStéphane Hessel war nicht nur ein angesehener Diplomat, sondern kämpfte auch in der französischen Résistance. Mit seiner Streitschrift „Empört euch!“ hat er das wahrscheinlich wichtigste Werk zu den Demonstrationen verfasst, welche derzeit in vielen europäischen und arabischen Städten stattfinden. Die vorwiegend jungen Menschen gehen reihenweise auf die Straße um gegen die eigene Perspektivlosigkeit zu rebellieren. Auf knapp zwanzig Seiten macht der 93jährige deutlich, was seiner Meinung nach schief läuft in unserer Gesellschaft. Sein Text packt einen, er rüttelt einen durch. Er ruft dazu auf, das Geld, das zur Verfügung steht, besser zu verteilen. Er kreidet an, dass die privatisierten Banken das Wohl der Gesellschaft aus den Augen verlieren. Er kreidet an, dass Politiker das zulassen. Er begehrt auf gegen die Gleichgültigkeit, die sich vielerorts eingeschlichen hat. Er zeigt auf, wie man als Einzelner das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit überwinden kann. Er fordert Engagement. Er verlangt den Menschen ab, sich die Welt anzuschauen und ihrer Empörung über Missstände freien Lauf zu lassen. Er möchte, dass man sich konkrete Dinge herauspickt, die man ändern möchte. Und weil er sich durchaus bewusst ist, dass Empörung allein nicht ausreicht, sondern auch Lösungsvorschläge gefragt sind, wurde nun eine weitere Streitschrift von ihm veröffentlicht, die unter dem Namen „Engagiert euch!“ konkrete Möglichkeiten benennt, wie man den Traum von einer besseren Gesellschaft in die Tat umsetzen köstephane-hesselnnte. Hessel ist durch „Empört euch!“ inzwischen zum Idol einer ganzen Generation aufgestiegen, nun macht er sich für den Schutz unsere Umwelt (und weiterhin auch für die Wahrung der Menschenrechte) stark. Interessanterweise präsentiert er uns seine Vorstellungen diesmal nicht als zusammenhängenden Text sondern in Dialogform, sein Gesprächspartner ist Gilles Vanderpooten, ein französischer Öko-Aktivist und fachlich versierter Interviewer, mit dem sich Hessel über brennende Fragen unserer Zeit austauscht. Vanderpooten gelingt es immer wieder durch seine Fragestellungen, Stéphane Hessel dazu zu bringen, seine allgemeinen Thesen auf konkrete Beispiele umzumünzen. Außerdem wurde nach dem Interview die „Uno-Menschenrechtserklärung“ abgedruckt, jene Richtlinie, welche die Meisten seiner Überzeugungen bereits beinhaltet. Während Politiker in diversen Talk-Shows ein wortgewandtes Kaffeekränzchen veranstalten, sind Hessels Streitschriften ein Aufruf an die Menschheit, raus zu gehen und die Welt zu verändern. Getreu dem Motto: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen“, so Hessel.

birgit-schonauBirgit Schönaus aktueller Roman setzt sich derweil mit dem „Inneren der Unterhaltungsdemokratie“ auseinander. Der „Circus Italia“ öffnet seine Tore und schon allein der Titel des Buches hat etwas Anmaßendes. Die Geschichte selbst wiederum hätte ein solch reißerisches Outfit gar nicht nötig gehabt, denn die langjährige Korrespondentin der „Zeit“ bemüht sich darum, ein äußert differenziertes Bild des Landes Italien zu zeichnen. Diesbezüglich unternimmt sie eine Rundreise, um sich mit den Menschen vor Ort auseinander zu setzen. Was läuft hier gut, was läuft hier schief, möchte sie wissen und trifft auf Minister, die sich einen feuchten Dreck um Gesetze scheren und Produzenten, die sich mit den vom Staat erlassenen, haarsträubenden Gesetzen herumschlagen müssen. Sie presst ihren Finger in die Bruchstellen des Systems und legt dabei so manchen Irrsinn offen, hat aber auch ein offenes Ohr für die Menschen, die sich alltäglich damit konfrontiert sehen, bestimmten Mechanismen ausgeliefert zu sein. Eben das führt dazu, dass man am Ende nicht das Gefühl hat, hier würde sich jemand im Klugscheißer-Modus an einer fremden Kultur abarbeiten, um hinterher dann gute Ratschläge zu erteilen. Genau das macht „Circus Italia“ letztlich zu einem gleichsam schmissigen, wie auch gut recherchierten Werk. Die Autorin verspürt eine große Zuneigung zu dem Land, über das sie schreibt. Sie versteht sich als kompetente Reporterin, die lediglich versucht, gesellschaftliche Missstände zu benennen und das Widersprüchliche, aber gleichzeitig auch Liebenswerte einer Kultur hervorzuheben. Und mehr kann man als Leser auch eigentlich nicht erwarten.

roche_schosgebeteCharlotte Roche wiederum würde es ziemlich schwer haben mit ihrem zweiten Roman. So viel war schon im Vorfeld klar. Die Erwartungen waren monströs und jetzt liegt er tatsächlich vor einem. Ein Werk namens „Schoßgebete“ 283 Seiten stark und schon im ersten Satz fällt das Wort „Sex“. Die Autorin scheint also nach wie vor Geschmack an der Provokation gefunden zu haben. Bemerkenswert aber ist, dass ihr zweiter Roman ganz im Gegensatz zum Debüt auch unabhängig von den provokanten Aspekten funktioniert. Die Geschichte dreht sich um das Leben einer gewissen Elizabeth, die äußerst pingelig darum bemüht ist, immer alles unter Kontrolle zu behalten. Das ganze Leben scheint ein einziger Hindernislauf zu sein und so bemüht sich die Protagonistin über jede noch so komplizierte Hürde möglichst ungefährdet drüber zu hüpfen. Nebenher allerdings scheint sie zu vergessen, dass das ganze Dasein auch ein bisschen Spaß bringen soll. Und da kommt dann schon der anfangs erwähnte Sex ins Spiel. Nur dabei kann sich Elizabeth nämlich so richtig fallen lassen. Außerdem bringt ihr Georg bei, was es heißt zu lieben und zu vertrauen. Deshalb möchte sie ihn auch gerne behalten. Am liebsten für immer. Doch das ist gar nicht so einfach wie man denkt und es macht sehr viel Spaß, Elizabeth bei ihrem Hürdenlauf zuzusehen. Schoßgebete“ erschöpft sich diesbezüglich nicht in schlüpfrigen Details (die es natürlich trotzdem en Masse zu lesen gibt), sondern gerät zur modernen Familiengeschichte. Lediglich die zahlreichen (mit großer Wahrscheinlichkeit) autobiografischen Passagen des Romans sorgen ein wenig für Verwunderung beim Leser, da sich Charlotte Roche hinsichtlich ihres Innenlebens eigentlich immer sehr reserviert in der Öffentlichkeit zeigte. Worum es in diesem Zusammenhang aber genau geht, das solltest du dir am Besten selbst zu Gemüte führen. Es lohnt sich.

friedrich-aniTabor Süden ermittelt nun im 15. Roman von Friedrich Ani. – Friedrich Ani, das ist ein Münchner Autor, der für seine Kriminalromane bekannt ist. Seine Romane wurden schon ins Französische, Spanische, Niederländische, Dänische, Koreanische und Chinesische übersetzt. Seit er 1994 mit dem Literaturförderpreis der Stadt München ausgezeichnet wurde, ist er im Literaturbetrieb gesetzt und seine Werke wurden kontinuierlich gefeiert. Erst im letzten Jahr erhielt er den Grimme-Preis für das Drehbuch zu „Kommissar Süden und der Luftgitarrist“. Die Hauptfigur seines aktuellen Buches, Tabor Süden -ein 51-jähriger Ex-Polizeibeamter- kommt wegen eines plötzlichen Anrufs seines Vaters wieder nach München. Jahrzehntelang hat er diesen, nach seinem plötzlichen Verschwinden vor 35 Jahren, nicht mehr gesehen. In der Stadt heuert er bei einer Detektei an und muss jetzt ebenfalls nach einen verschwundenen Mann suchen: Raimund Zacherl, 53 Jahre alt und seines Zeichens Kneipeninhaber, der bereits seit zwei Jahren verschwunden ist. Bei den Befragungen, bei welchen er mit wenigen Worten und sehr langen bohrenden Pausen der Wahrheit auf die Schliche zu kommen versucht, wird klar, wie wenig Bezug seine Mitmenschen eigentlich zu dem Gesuchten haben. Auch als Selbiger sich schlagartig verändert und nur noch in sich gekehrt auf einem Stuhl kauert – sein Blick starr in eine Richtung gelenkt, wundern sich seine Ehefrau, Angestellten und Gäste nicht, sondern akzeptierten dessen eigenwillige Art und Weise, durchs Leben zu streifen. (Vorsicht SPOILER!) Am Ende findet der Kommissar beide, den Wirt und den Vater. Das heißt aber noch lange nicht, dass Selbige auch wirklich bereit wären, dem Kommissar zu erzählen, wie es zu dem plötzlichen Aufbruch kam. (verfasst von K. Reschke)

krisztina-tothEinen Roman, der den Namen unserer gleichnamigen Comic-Rubrik trägt, den konnten wir uns natürlich nicht am Ende auch nicht durch die Lappen gehen lassen. Wobei „Strichcode“ eigentlich gar keine zusammenhängende Erzählung ist. Vielmehr handelt es sich bei dem Buch um eine Ansammlung von 15 Kurzgeschichten, die sich allesamt mit dem Erwachsenwerden auseinandersetzen. Er behandelt Stationen im Leben, die dazu führen, dass man sich plötzlich der eigenen Vergänglichkeit und Verletzlichkeit bewusst wird. So bekommt ein Kind in der U-Bahn von Budapest zum ersten Mal einen Toten zu Gesicht, eine Tochter muss miterleben, wie ihr Vater ihre geliebte Puppe verbrennt und ein Stadtkind muss sich plötzlich mit dem Landleben bei den eigenen Großeltern arrangieren, wo es sich einer fremden Welt aus Aberglauben und Mittellosigkeit ausgeliefert sieht. Es sind Wendepunkte im Leben, die sich die Autorin herauspickt, um uns eine Geschichte über das große Ganze zu erzählen. Im Rahmen des Buches wird nicht deutlich, ob es sich bei der Erzählung um eine einzelne Person handelt oder um mehrere. Es wird nicht deutlich, ob die einzelnen Geschichten autobiographisch angelegt sind oder nicht. Man spürt lediglich, dass die Autorin es versteht, die einzelnen Szenerien und schmerzvollen Ereignisse glaubhaft in Worte zu transformieren. Man leidet mit den Menschen in diesem Buch. Krisztina Tóth gelingt es, dem Leser ein Gefühl dafür zu vermitteln, welche fulminanten Drahtseilakt wir alltäglich absolvieren, wenn wir aus unseren Träumen erwachen und raus gehen: um einfach nur zu leben.