// aufgelesen vol. 26 – „wer mit offenen augen durch die straßen geht, der wird bestimmt die fidelsten gesichter in den trauerkutschen sehen“

mit neuen Büchern von Wolfgang Herrndorf, Jack Kerouac, Meredith Haaf, Daniel Boese & André Breton. // Wolfgang Herrndorf hat mit seinem Roman „Tschick“ alle verzückt. Nun macht er sich daran, die Freiheiten, die ihm aufgrund seines Megaerfolgs offeriert wurden, hemmungslos auszunutzen. Sein neues Buch „Sand“ unterläuft alle Erwartungshaltungen. Das Werk ist sperrig, ausufernd und vor […]

mit neuen Büchern von Wolfgang Herrndorf, Jack Kerouac, Meredith Haaf, Daniel Boese & André Breton.

herrndorf// Wolfgang Herrndorf hat mit seinem Roman „Tschick“ alle verzückt. Nun macht er sich daran, die Freiheiten, die ihm aufgrund seines Megaerfolgs offeriert wurden, hemmungslos auszunutzen. Sein neues Buch „Sand“ unterläuft alle Erwartungshaltungen. Das Werk ist sperrig, ausufernd und vor allem die passende Retourkutsche an all jene, die ihn als Schriftsteller bereits in eine bestimmte Ecke schubsen wollten. Es ist ziemlich schwierig die Handlung dieses Werks in wenigen Setzen zu umreißen. Deswegen hat wahrscheinlich auch sein Verlag kurzerhand darauf verzichtet, auf dem Rückumschlag eine Kurzzusammenfassung zu platzieren. Stattdessen bekommt man ein treffsicheres Zitat vor den Latz geknallt, dass deutlich macht, worum es hier geht: nämlich Poesie in Romanform zu transformieren. Man merkt, wie intensiv der Autor an den einzelnen Sätzen dieses Werkes gefeilt hat. Schon das erste Kapitel, das voller Andeutungen steckt, elektrisiert einen. Man arbeitet sich regelrecht rein in dieses Buch, das gerade zu Beginn eine echte Herausforderung darstellt. Die Komplexität, der regelrecht überbordende Auftakt, mündet schließlich in einen Geheimagenten-Thriller, der zunehmend an Fahrt aufnimmt. In gewisser Weise verhält es sich mit diesem Werk, wie mit zahllosen Geschichten von David Foster Wallace. Da erfährt man auch erst mit der Zeit, worum es eigentlich ging. So gelingt es Herrndorf, seine Leserschaft konsequent an der Nase herumzuführen, zudem kann er sein Faible für durch geknallte Charaktere voll ausleben und Selbigen im Rahmen der Geschichte viel Raum zur Entfaltung einräumen. „Sand“ ist ein buntes, komisches, bisweilen auch listiges Werk. In gewisser Weise treffen hier die Coen-Brüder auf das reale Leben. In der Gewissheit der eigenen Vergänglichkeit hat Wolfgang Herrndorf alles auf eine Karte gesetzt und eine Ballade auf die Anti-Helden unserer Gesellschaft geschrieben. Bleibt am Ende nur zu hoffen, dass möglichst viele Leser seiner Fährte folgen, bevor der Wind seine Spuren im Sand verwischt.

kerouac// Unglaublich, aber wahr. Die Urfassung von „On The Road“ – dem Beat Generation-Klassiker aus der Feder Jack Kerouacs liegt nun endlich auch hierzulande in neuer Übersetzung vor. Das Original des Buches ist damals in stark redigierter Fassung erschienen. Und so kann man sich nun aufs Neue diesem uferlosen, hemmungslosen, schlicht atemlosen Schmöker hingeben, der eine ganze Horde von Nachwuchsautoren inspirierte, ihrem Drang zum Schreiben freien Lauf zu lassen. Kerouac hat das Werk damals auf eine 40 Meter lange Papierrolle gepinselt. Und zwar in nur drei wilden Nächten. Anschließend hat er sich abermals 30 Tage Zeit genommen, seine literarischen Gedankenströme neu zu überarbeiten und dazu entschlossen, eine überarbeitete Version zu veröffentlichen. Nun hat Howard Cunnell sich noch mal seinen Originalaufzeichnungen zugewandt und die Schriftrolle eins zu eins digitalisiert. Auch wenn winzige Bruchstücke des Originaltextes leider nicht mehr vorlagen, so dass hier kein Anspruch auf Vollständigkeit besteht (fehlende Stellen wurden aus dem Originalroman übernommen), ist es ein Vergnügen Kerouacs Gedankenstrom in solch unmittelbarer Form erleben zu dürfen. Auch wenn diese Veröffentlichung wahrscheinlich nie geplant gewesen ist, zieht sie einen von der ersten Seite an in ihren Bann. Man sollte sich am Besten einen kompletten Tag lang Zeit nehmen und die knapp 600 Seiten in einem Rutsch durchschmökern. Die Geschwindigkeit dieses Werks ist beeindruckend. Es saugt einen regelrecht in sich auf. Die Geschichte dreht sich um zwei Kumpels, sie reisen von New York Richtung Westküste, nach Mexiko und landen schließlich wieder zuhause. Ihre Reise hat nicht nur großen Einfluss auf ihre Freundschaft, sie verändert auch die beiden Personen selbst. „On The Road“ ist in diesem Zusammenhang nicht nur eine Geschichte über das Leben, die Liebe, den Sex, das Glück, die Musik und die Drogen. Es ist genau die Geschichte, welche man zu diesen Themen wirklich gelesen haben sollte.

haaf// „Heult doch“ ruft die Autorin Meredith Haaf derweil allen zu, die am eigenen Luxus-Lifestyle zugrunde gehen. Ihr aktuelles Buch dreht sich um jene Generation Mitte 20, die sich ins gemachte Nest der Eltern pflanzt und vor Selbstmitleid zerfließt. Das Buch ist im übertragenen Sinne ein Frontalangriff auf Sarah Kuttners „Wachstumsschmerz“, weil es keine Ausreden mehr gelten lässt. Kloppt eure Emotionen doch in die Tonne, scheint einem die Autorin immer wieder zuzurufen. Also nimmt sie Stück für Stück die Befindlichkeiten der eigenen Altersgenossen auseinander. Für die Autorin scheinen Selbige nämlich der Anfang allen Übels sein. Und sie weiß wovon sie spricht. Sie zählt als Mitglied des 83er Jahrgangs selbst zu dieser Generation an Leisetretern, die sich vor allem mit dem eigenen, persönlichen Innenleben auseinandersetzt. Als studierte Philosophin und Autorin des SZ-Magazins, sowie des renommierten Blogs maedchenmannschaft.net, hat sie uns bereits mit zahlreichen Texten zum Nachdenken angeregt. Mit „Heult doch“ gelingt es ihr abermals, weil sich darin die Orientierungslosigkeit vieler junger Erwachsener widerspiegelt, welche vom Wohlstandbaum zehren. Die einzelnen Kapitel setzen sich in diesem Zusammenhang zielsicher mit den Themen Reizüberflutung, Postutopismus, Pragmatismus und Wutlosigkeit auseinander. Am Ende bekommt man ein äußerst differenziertes Bild einer Generation geliefert, deren fehlender Mut, die Welt zu verändern, erschreckend nachvollziehbar scheint.

boese// In eine ähnliche Kerbe schlägt auch das aktuelle Buch von Daniel Boese. Dem Online-Redakteur des Kunstmagazins „art“ gelingt es in seinen Artikeln immer wieder gesellschaftskritische Problemstellungen unter veränderten Gesichtspunkten zu durchleuchten. Auf seinem Blog www.danielboese.de setzt er sich darüber hinaus intensiv mit den zeitgenössischen Fragestellungen zum Thema „Klimawandel“ auseinander und profiliert sich in diesem Zusammenhang als intelligenter Querkopf, dem das Kunststück gelingt, komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge für jeden verständlich darzulegen. In seinem Buch „Wir sind jung und brauchen die Welt“ setzt er sich im Allgemeinen mit der „Generation Facebook“ auseinander, welcher die Möglichkeiten der digitalen Medienwelt in den Schoß gelegt wurden. Er führt vor Augen, wie Selbige diese auf überzeugende Weise zum Aufbegehren gegen das Establishment einzusetzen weiß. Auf seinem Streifzug interviewt er Atomkraftgegner in Gorleben und Aktivisten in Indien. Außerdem führt er vor Augen, wie die „Grünen Nerds“ zum Schutz des Klimas beitragen, beschäftigt sich mit dem Ende des Atomzeitalters in Deutschland und kreidet den Verantwortlichen die vertrödelte Energiewende an. Die schmissigen, aber inhaltlich dennoch sehr gut recherchierten Texte erzeugen einen regelrechten Drang beim Leser, sich persönlich intensiver am Weltgeschehen zu beteiligen. Da ist es am Ende äußerst praktisch, dass der Autor gleich noch 25 Websites auflistet, die man sich in diesem Zusammenhang unbedingt mal zu Gemüte führen sollte. Ein echter Schatz für jeden Weltverbesserer, dieses Buch.

breton// Wer sich mal intensiv mit der Geschichte des schwarzen Humors beschäftigen möchte, sollte zum Abschluss mal in einer „Zweitausendeins“-Buchhandlung vorbeischauen. Dort (und nur dort) ist seit Kurzem die „Anthologie des schwarzen Humors“ von André Breton nach einer gefühlten Ewigkeit wieder erhältlich. Der amüsante Wälzer stammt bereits aus dem Jahre 1939 und enthält zahllose Geschichten von 45 verschiedenen Autoren, die sich allesamt mit dem Surrealen auseinandersetzen. Breton selbst wurde 1896 in der Normandie geboren und war ein angesehener Poet und Schriftsteller. Auf 555 Seiten bekommt man nun vom Verlag „Rogner & Bernhard“ einen Rundumschlag des düsteren Witzes vor den Latz geknallt. Neben Jonathan Swift, Franz Kafka („Die Verwandlung“) und Hans Arp finden sich auch Texte (und Gedichte) von Pablo Picasso und Lewis Carroll in diesem Werk. Ein scheinbar unerschöpfliches, skurriles Sammelsurium des Abgründigen tut sich vor einem auf. Bitterböse, augenzwinkernde „Anweisungen für die Dienerschaft“ (z.B. bezüglich gewiefter Lohnverhandlungen oder der Kunst des Tür-Zuknallens) aus der Feder Jonathan Swifts treffen auf „Die neuen Aspekte des gespenstischen Sex-Appeals“ von niemand Geringerem als Großmeister Salvador Dali. Am Ende sitzt mal mit einem schiefen Schmunzeln auf den Lippen in der Ecke und sinniert über den Rand des Abgrundes, auf welchem wir alle balancieren. Wer auf anspruchsvolle, äußerst gewitzte Unterhaltung steht, sollte unbedingt mal rein lesen. Und damit Schluss für heute. Frohe Weihnachten euch allen und bis zum nächsten Mal.