// von einer, die auszog berlin zu lernen

Ich bin hier! Ich bin angekommen! Big B, Spree, Fernsehturm, Holocaustmahnmal, Humboldt-Uni, Messe, Olympiastadium, Jüdisches Museum, seit dem ich den Fuß auf hauptstädtischen Boden gesetzt habe, renne ich. Und zwar nicht zur Arbeit. Die wird hier allerorts „jemütlich“ angegangen. „Kommen Se doch einfach so gegen halb zehn, wenn’s geht“, sagte man mir auf jemütliche Art […]

Ich bin hier! Ich bin angekommen! Big B, Spree, Fernsehturm, Holocaustmahnmal, Humboldt-Uni, Messe, Olympiastadium, Jüdisches Museum, seit dem ich den Fuß auf hauptstädtischen Boden gesetzt habe, renne ich. Und zwar nicht zur Arbeit. Die wird hier allerorts „jemütlich“ angegangen. „Kommen Se doch einfach so gegen halb zehn, wenn’s geht“, sagte man mir auf jemütliche Art und Weise zu Beginn des Praktikums. Da die Büroräume um halb zehn aber noch schlafen, komme ich jetzt eher gegen elf Uhr. Doch abends, wenn sich die Lichter im Büro löschen, geht es los: Das große Rennen, Gucken, Lernen.






Was Berlin nicht hat, sind uninteressante Ecken. Selbst an der kleinsten nach Urin müffelnden Straßenecke stecken leicht übersehbare Zinnplatten in den Pflastersteinen. Sie wollen sagen: Hier wurde einst ein Mensch durch Nationalsozialisten ermordet. Berlin ist groß: Direkt vor meiner Haustür ragt eine riesige Platte in den Himmel und uns trennt nur noch eine große sechsspurige Stadtstraße.

Lange fragte ich mich, was ich an dieser Stadt so liebe: Ist es am Ende die nur allzu schnell abebbende Begeisterung in der Stadt oder in „der“ Stadt zu leben? Zwischen Promis, Künstlern und Politikern, in Neubau oder Altbau, zwischen Marx und Öko, Bratwurst und Soljanka?

Dass hier jeder ganz besonders viel zu erzählen hat, daran muss man sich erst gewöhnen. Es vergeht kein Abend bei Rotwein und Brause, an dem nicht ausgiebig über den kommunistischen Untergang diskutiert wird und ob Rousseau als Wurzel des Sozialismus angesehen werden darf. Was war mit Montesquieu los und ist selbst ein Übermensch zu einer Metaphysik wie Nietzsche sie forderte überhaupt in der Lage? Bitte? Du hast Schopenhauer nicht gelesen?! – Äh, nee…
Man muss hier improvisieren können, kann auch durchaus mal so tun, als wüsste man, wovon man spricht – Hauptsache es wird disputiert – und großzügig über Redenschwingerei hinweggesehen. Andererseits ist es unglaublich erholsam nichts mehr über das letzte perfekte Dinner oder die neue DSDS-Show hören zu müssen.

„Diese Stadt wächst gerade heran“, sagte mal ein Komponist zu mir (und hier leben irgendwie nur Komponisten und Autoren). „Londons blühte ist vorbei, Paris hat seine Zeit hinter sich. Aber Berlin, da passiert gerade jetzt was, und das ist mein Lebensgefühl.“

„Stimmt“, denke ich mir, während ich an all den Baustellen vorbeiflaniere, die sich quer durch die Stadt fräsen und scheinbar niemals beendet werden wollen. Überall wird verändert, jeder versucht hier sein Glück, alles scheint im Wandel zu sein. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Kreuzberg nicht Prenzlauerberg ist, dass in Mitte der Wandel herrscht, während Wedding sehnsüchtig auf einen neuen Spielplatz wartet, und dass ich direkt über einer Kneipe wohne, in der die muskelbepackten Männer verdächtig kahl geschorene Häupter haben.

Das ist Berlin – und man muss es lernen


// von andrea reiter