// subjektive gerechtigkeit

Aus dem Prüfungsalltag eines Studenten “Ich weiss, ich habe es ja gemerkt. Bitte geben Sie mir noch eine Chance. Ich brauche diesen Schein! Ich habe alles danach ausgerichtet – Magistertermine, Tutorien..”, schluchzt Karl mit zunehmender Verzweiflung. “Wo käme ich denn hin, wenn ich jedem Studenten, der hier in mein Büro kommt, einfach so eine zweite […]

Aus dem Prüfungsalltag eines Studenten

Ich weiss, ich habe es ja gemerkt. Bitte geben Sie mir noch eine Chance. Ich brauche diesen Schein! Ich habe alles danach ausgerichtet – Magistertermine, Tutorien..”, schluchzt Karl mit zunehmender Verzweiflung.
“Wo käme ich denn hin, wenn ich jedem Studenten, der hier in mein Büro kommt, einfach so eine zweite Chance gebe? Sehen Sie, dieser Test ist dafür da, um das Niveau einigermaßen  gleich halten zu können. Sie wussten ja noch nicht einmal den Unterschied zwischen X und Y! Und das im Oberseminar! Sie machen mir Sorgen! Sie Machen mir wirklich Sorgen Herr Ratt! Ich kann Sie nicht einfach teilnehmen lassen.. das wäre unfair gegenüber ihren Kommilitonen, die ich fortschicken musste.”
Karls Augen werden gläsern, dann verfärben sie sich leicht rot, bis sich schließlich eine kleine Träne ihren Weg zum Mund bahnen will. Kurz bevor die Träne im Begriff ist sich zu lösen, macht Karl eine ruckartige Bewegung.. Sein Handrücken fliegt zum Auge – die Träne landet am Hosenbein.
“Entschuldigen Sie, mmpf, es ist mir wirklich ausgesprochen wichtig an diesem Seminar teilzunehmen. Gibt es keine Möglichkeit?”
Professor Löwe dreht sich in Richtung Fenster und denkt sicht:
Möglich.. Möglichkeiten, hach, ich bin überhaupt nicht in der Laune ständig alles möglich zu machen.. ich bekomme wieder die Quittung für meine Gutmütigkeit. Schwatzen.. dumme Antworten, Nabelblicke. Es nervt! Ach!
Er schaut ihn an.
Rührend, wie er hier so da hockt und fast weint. Kindlich irgendwie.
Ach, was soll´s!

“In zwei Wochen kommen Sie nochmal um diese Uhrzeit in mein Büro und dann will ich, dass Sie den Stoff draufhaben! Bis dahin veranlasse ich, dass Sie auf die Anwesenheitsliste gelangen. Wir sehen uns im Oberseminar!”
Karls Gesicht, dass sich im Laufe des Gesprächs verkrampft zusammengezogen hatte, beginnt sich rasch zu weiten, ein Lächeln, dann ein enthusiastisches: “Danke! Danke Herr Löwe.”
Auf dem Weg zur Tür legt Professor Löwe kurz die Hand auf Karls Schulter, “Wissen Sie, ich könnte vom Alter her ihr Vater sein! Und Herr Ratt, seinen Vater möchte man doch nicht enttäuschen, oder?! Also, strengen Sie sich an!”
Karl weiss nicht, ob er sich über diese vertrauensvolle Geste freuen oder ärgern soll. Ist sein leiblicher Vater doch ein Tyrann, der Liebe mit Leistung verwechselt und Gefühle zeigen mit Geldschenkungen. Er entschließt sich die Bemerkung lächelnd hinzunehmen und verschwindet.

Zwei Wochen später muss Karl zur Nachprüfung. Während dieser Zeit trennt sich seine Freundin von ihm, die schon länger der Ansicht war, er bekommt nichts gebacken. Woraufhin er sich, um der Trauer über den Verlust aus dem Wege zu gehen, entschließt, ein Hardcor-Jogging-Programm zu starten. Am dritten Trainings-Tag zieht er sich eine derartig böse Erkältung zu, dass er für den Rest seiner verfügbaren Lernzeit ans Bett gefesselt ist und vor lauter Kopfweh und Antibiotika kaum etwas konturhaftes wahrnehmen kann: alles verschmilzt zu einem dumpfen Brei aus Buchstaben, Farben und wirren Formen.
Dieser Zustand ändert sich auch nicht sonderlich, als Karl zurück in die Höhle des Löwen muss. Im Oberseminar, zwei Stunden vor dem Alles entscheidenden Büro-Testat-Gespräch mit Professor Löwe, sitzt Karl mit Schal und Hustinettenaura auf einem einzelnen Stuhlplatz, natürlich heizungsnah.
Professor Löwe hat die Angewohnheit seine Studenten zu Beginn seiner Veranstaltungen entweder auf Nieren und Wasser über die letzte Stunde zu prüfen oder politische Unsagbarkeiten in den Raum zu werfen und sich darüber maßlos aufzuregen. Diesmal tut er Ersteres.
Karl wird aufgerufen.
Er versagt.
Sein Sitznachbar soll helfen.
Er weiss es.
Nächste Frage.
Die Blondine hinten rechts im Lila Pulli!
Sie weiss es, weil ihre Nachbarin zufällig die Unterlagen vor sich hat und mit Fingerzeig auf die Lösung deutet.
Nächste Frage geht wieder an Karl.
Schon wieder ich, was soll das denn!, denkt er.
Versagt,
viel zu lange überlegt. Ein strafender Blick von Professor Löwe und die Stunde nimmt ihren gewohnten Lehrplanverlauf.

Karl geht gleich nach Stundenschluss wie abgemacht zum Büro von Professor Löwe. Klopft an und eine weitere, unangenehme Situation scheint für ihn zu beginnen.
“Na, Herr Ratt, wie geht es Ihnen denn heute? Ausgeschlafen? Gelernt? Frisch und munter?” Unterwürfig neigt Karl den Kopf, “Morgen Herr Löwe, na ja.. Es geht so.”
“Es geht so? Das können sie aber kraftvoller, Sie sind doch noch jung!”
Kurze Stille, dann Professor Löwe ernst: “Also ich dachte mir, ich mache es Ihnen leicht und prüfe Sie während des Seminars. Ich stelle einfach ein paar Fragen, auch an Ihre Kommilitonen und dann sehen wir mal wie Sie sich so  machen! Aber Herr Ratt, was muss ich da sehen? Sagen Sie, haben Sie denn überhaupt nichts getan? Also Sie wussten ja gar nichts!”
Karl schaut ihn hilflos an, bereit alles zu tun fängt er an: “Doch ich habe etwas getan, aber.. Aber ich bin sehr krank geworden, musste Medikamente nehmen und zu privaten Missständen kam es dann auch noch. Ich merke ja auch, dass, je mehr ich das ganze Thema bearbeite, desto mehr Spass habe ich daran. Bitte Herr Löwe..!”
Das ist ja eine dramatische Entschuldigung, schön schön! Aber das ändert nichts. Professor Löwe stiert. Mensch Junge, es geht doch um Deine Zukunft- vielleicht sollte ich damit argumentieren. JA! “Also Herr Ratt, Sie müssen hier jetzt keinen Seelenstriptease hinlegen, wissen Sie, es geht mir doch nicht darum, Sie hier zu peinigen! Sie sollen doch was für Ihr Leben lernen!”
Darauf Karl entschlossen: “Sehen Sie, das ist eben so ein Punkt, das ist mein letzter Oberseminarschein. Und ich beabsichtige nicht ein Fachmann zu werden, sondern ziehe vielleicht noch eine andere Ausbildung in Betracht. Nur, so ein abgebrochenes Studium in einer Bewerbung sieht nicht gut aus. Wissen Sie, so ist das eigentlich.” Karl ist von sich begeistert, wie er für sich einsteht.
“Ja aber Herr Ratt, wenn Sie Magister machen wollen, dann kann ich Ihnen jetzt schon sagen, dass was wir da heute gemacht haben ist Prüfungsvoraussetzung. Sie werden nicht Drumherum kommen.”
“Selbst wenn ich im zweiten Nebenfach meine Prüfung ablege?”, fragt Karl skeptisch.
“Na was glauben Sie denn Herr Ratt?”
Kurze Stille.
Professor Löwe einlenkend, “Also Herr Ratt, langsam finde ich die ganze Situation unfair gegenüber Ihren Kommilitonen. Ich gebe Ihnen eine allerletzte Chance- wenn Sie die wieder verhauen, dann ist es endgültig. Klar?! Jetzt aber raus hier und tun Sie etwas!” Karl packt schnell seine Sachen, und sagt im Hinausgehen dreimal: “Danke.”

Wieder stehen Karl zwei Wochen Lernzeit zur Verfügung. Entschlossen, dieses Mal nicht zu versagen, trägt er sich in Tutorien ein, besucht Übungsstunden und geht alte Klausuren vergangener Jahrgänge durch. Sein Selbstbewusstsein wächst, seine Freundin scheint fasst vergessen und seine Erkältung ist nur noch ein schleimiger Husten, der von Tag zu Tag abnimmt.
Er lässt das Joggen, Discobesuche, Fernsehabende und die Kneipenrunden mit Jens und Michael sausen. Frühs um acht steht er auf: eine Stunde lernen- eine Viertelstunde Pause- eine Stunde lernen – eine Viertelstunde Pause. Neun Stunden am Tag mit einer Stunde Mittagspause. Telefon und Handy- während dieser Zeit tabu. Keine Ablenkung, keine fette Kost, keine Ausreden mehr. L E R N E N.
Karl hat ein Ziel: Er will in dieses Oberseminar und er will seinen Stolz zurück!

Nach zwei Wochen sitzt er angriffsbereit im Seminar. Seine Kurs-Unterlagen liegen sorgfältig griffbreit auf dem Tisch vor ihm ausgebreitet.. Für den Fall der Fälle, sitzen neben ihm zwei engagierte und zudem noch hübsche Lerngruppenteilnehmerinnen, die er während der letzten 14 Tage kennen gelernt hat.
Jetzt oder nie!, denkt sich Karl.
Professor Löwe betritt den Raum, Gelächter und Unterhaltungen werden sofort eingestellt.
Er beginnt: “Guten Morgen meine Damen und Herren! Ich begrüße Sie recht herzlich!” Ein müdes Morgen murmelt aus den Reihen- nur Karls Stimme sticht kraftvoll heraus. Gedankenverloren sortiert Professor Löwe seine Unterlagen auf dem Tisch vor sich, setzt sich anschließend und erhebt seine Stimme: “Nun, heute haben wir unsere erste Referatsgruppe. Damit wir in keine Verzögerung geraten bitte ich auch gleich die erste Referentin nach vorne!”
Wie bitte? .. Ach!, denkt Karl. Dann wird er mich wohl im Büro prüfen wollen, oh man!

Nach dem Seminar läuft Karl direkt zum Büro und postiert sich auf einem Wartestuhl vor seiner Tür. Nach einer halben Stunde kommt er schließlich, umgeben von der nächsten Referatsgruppe, die für die folgende Stunde ihr Thesenpapier ausarbeiten muss und voller Fragen um ihn herumwuselt. Auf Karls Höhe bleibt er stehen, beugt sich leicht zu ihm und fragt zwinkernd, “Wollen Sie auch zu mir?”.
“Ja.”, antwortet Karl, mit leicht fragendem Ton. Wieso fragt er das denn?, zweifelt Karl. “Ok, dann haben Sie noch einen Moment Geduld, die Herrschaften hier haben noch ein paar Fragen, die Sie loswerden möchten und dann können wir uns unterhalten.”
Und schon sind Sie verschwunden und auf dem Gang herrscht plötzlich angenehme Ruhe. “Mh.” seufzt Karl. Um die Ecke schwirren plötzlich die zwei Hübschen aus seiner Lerngruppe. “Hi! Und, warst Du schon drin?”
“Ne, da is noch die Gruppe für nächste Woche drin. Dauert noch.”
“Diesmal schaffst Du´s! Kommst Du dann mit in die Mensa? Wir warten hier. Moral Support!”, zwinkern Sie ihm zu.
Karl lächelt, “Gerne.”
Die Bürotür öffnet sich. Verabschiedung, Gemurmel. Professor Löwe tritt an die beiden jungen Frauen neben Karl. “Na, wollen Sie auch zu mir?”
“Nein, wir warten auf Karl!”, antworten Sie keck.
“Na dann, kommen Sie Herr Ratt.”
Karl geht ihm hinterher, schließt die Tür und nimmt auf seinem gewohnten Platz im Ledersessel gegenüber von Professor Löwe platz. “Was haben Sie denn auf den Herzen?”, fragt Professor Löwe. “Ich bin wegen der Nachprüfung bei Ihnen. Sie wollten mich heute nochmals abfragen.”, antwortet Karl irritiert. “Ach, ja.”, entgegnet Professor Löwe. Stimmt, ach, das hat mir jetzt noch gefehlt. Dafür habe ich jetzt keine Muse. Erst dieser Hickhack mit den neuen Referatsthemen und jetzt das noch. Gut, gut. “Haben Sie gelernt? Können Sie´s?”
Karl fest: “Ja, ich habe gelernt.”
“Gut Herr Ratt, dann machen wir dem grausamen Spiel nun endlich ein Ende- Sie sind drin. Aber.. Ich habe ein besonderes Augenmerk auf Sie. Vergessen Sie das nicht!”

Karl kann es kaum glauben. Er hat es doch tatsächlich vergessen. “Danke Herr Löwe.”, fügt er schnell hinzu. Leicht erschöpft steht Professor Löwe auf und geht mit ihm zur Tür. “Auf Wiedersehen. Herr Ratt.”
“Auf Wiedersehen.”
Die Büro-Tür fällt ins Schloss und beide sind erleichtert über die Kürze des Gesprächs.
“Na und?”, laufen ihm die zwei jungen Damen erwartungsvoll entgegen.
“Ich bin drin! Ich bin drin!”, jubelt Karl. Sie packen ihre Sachen und laufen gemeinsam in die Mensa um zu Mittag zu essen. Karl ist in Gedanken noch immer bei Professor Löwe. Willkür, es war reine Willkür. Hätte er heute nicht selbst so eine gedämpfte Laune, ich wäre wieder zwei Wochen über meinen Unterlagen gehockt und letztendlich zum Ziehsohn mutiert. Wie soll das erst zur Magisterprüfung werden?! Alles subjektiv.. So ein Scheiß! Er wird noch nachdenklicher, vielleicht habe ich ihn ja wirklich an seinen Sohn erinnert.
“Karl, übrigens ist nächste Woche WG-Party bei uns in der Sanderau! Du kommst doch? Wäre schön. Es wird bestimmt lustig.” Karl kommt zur Besinnung und antwortet, “Gern!”.

Oh man, das wär zu geil wenn Karl da kommt. Wer weiss, vielleicht wird er ja nach ein zwei Bieren lockerer und wir kommen uns endlich mal näher! Denkt sich Mandy, die mit den kürzeren Haaren aus der Lerngruppe. Sie hat nun schon seit 14 Tagen ein Auge auf ihn geworfen..

// linda