// aufgelesen vol. 3 – „gibst du mir steine, geb ich dir sand, gibst du mir wasser, rühr ich den kalk“

Ist schon komisch, dass Menschen einfach so verschwinden. Verschluckt werden, von einem Moment auf den Anderen. Ist schon komisch, wenn man anschließend ihr Vermächtnis zusammenkratzt und versucht aus den Bruchstücken ein schlüssiges Ganzes zu kreieren. Hannes Köhler begibt sich einem seinem Debütroman auf Spurensuche. Jakobs bester Kumpel ist vom Zigarettenholen nicht mehr zurückgekehrt. Er gilt […]

hannes-kohlerIst schon komisch, dass Menschen einfach so verschwinden. Verschluckt werden, von einem Moment auf den Anderen. Ist schon komisch, wenn man anschließend ihr Vermächtnis zusammenkratzt und versucht aus den Bruchstücken ein schlüssiges Ganzes zu kreieren. Hannes Köhler begibt sich einem seinem Debütroman auf Spurensuche. Jakobs bester Kumpel ist vom Zigarettenholen nicht mehr zurückgekehrt. Er gilt als vermisst. Also macht sich Jakob auf die Suche nach ihm. Findet sein Tagebuch. Liest darin und kommt ins Grübeln. Denn das, was er dort liest, weist bisweilen starke Diskrepanzen zum realen Leben auf. Es ist fast so, als hätte Felix, so der Name des Verschwundenen, seine eigene Realität erschaffen. Wobei Jakob mit jeder weiteren Zeile, die er liest, selbst Zweifel überkommen, ob er sich in diesem Zusammenhang wirklich auf seine Erinnerungen verlassen kann. Hannes Köhler wirft in seinem Roman „In Spuren“ fortwährend die Frage auf, was und wer wir eigentlich sind. Was ist der Sinn des ganzen Schauspiels, das wir Leben nennen. Die Suche nach dem Freund wird zum existenziellen Unterfangen. „Die Wohnung war die erste, das Lesen dieses ersten Eintrags markiert das Überschreiten einer weiteren Grenze“… In Sätzen wie diesen spiegelt sich auch immer unsere eigene Zerrissenheit wieder. Wie weit sind wir bereit zu gehen, um die Wahrheit zu finden – und was bedeutet das eigentlich? Die Wahrheit zu finden? Reden wir hier von deiner Wahrheit – meiner – oder unserer?

carlottoMassimo Carlotto und Marco Videtta tauchen mit ihrem Roman „Wo die Zitronen blühen“ derweil in die Unterwelt Italiens ab und erzählen die Gesichte eines unschuldigen Mannes, der des Mordes an seiner Frau verdächtigt wird. Nachdem man seine Frau in der Badewanne findet und noch dazu heraus kommt, dass Selbige ihn betrogen hat, schlittert er schnurstracks auf die Pole Position der Verdächtigen. Seine Ehefrau war außerdem gerade dabei, einen großen Korruptionsskandal aufzudecken, weshalb sich Francesco selbst auf die Suche nach ihrem Mörder macht. Im Gegensatz zu seinen übrigen Romanen hält sich Carlotto dabei weitestgehend zurück, wenn es darum geht, seinen Wortschatz auf Radikalität zu trimmen. So ein sanftes Buch wie dieses, sucht man aus seiner Feder bisher vergebens, was unter anderem auch daran liegen dürfte, dass mit Videtta ein zweiter Autor am Start gewesen ist. Die beiden verheddern sich storytechnisch niemals in ihrem Geflecht aus Korruption, Gier und Macht, stattdessen üben sie mit ihrem Roman auf subtile Weise Gesellschaftskritik. Dabei bleibt zwar bisweilen leider auch die Spannung auf der Strecke, macht aber nichts, weil hier ganz offensichtlich auf die Botschaft der Geschichte abgezielt wurde.

carlotto-2Wer nun auf den Geschmack gekommen ist in Sachen politisch angehauchten Literatur der Marke Carlotto, kann sich hinterher gleich Nachschub besorgen. In seinem aktuellen Roman „Der Flüchtling“ umreißt er die wahre Geschichte eines linken italienischen Studenten (seiner selbst), welcher die Leiche einer Frau findet, das Verbrechen der Polizei meldet, anschließend selbst dafür angeklagt wird und sich anschließend auf der Flucht vor der Staatsmacht befindet. Hier wird nicht nur die Geschichte Carlottos erzählt, hier wird ganz nebenbei auch das Justizsystem in Italien in Frage gestellt, was letztlich auch in einer Änderung des Rechtssystems gipfelt. Der Roman beschränkt sich in diesem Zusammenhang fast ausschließlich auf die Flucht des Protagonisten. Er führt aber auch vor Augen, was passieren kann, wenn man jemanden, trotz eines Mangels an Indizien, für ein Verbrechen bestraft, das ihm nicht nachzuweisen ist, weil er es niemals begangen hat. 1976 wird die Studentin Margherita Magello erschossen, Carlotto findet sie, wird zu 15 Jahren Haft verurteilt, flieht kurz nach der Verkündung, fühlt sich zunehmend entwurzelt, verliert schließlich vollständig den Kontakt zu seiner Familie, stellt alles in Frage, landet letztlich doch im Gefängnis und schreibt diesen Roman, dessen unterkühlte, sehr distanzierte Wortwahl das Grauen nur noch weiter maximiert. Vielleicht ist das auch eine Art Schutzmaßnahme von Seiten des Autors, die Geschehnisse aus dem Blickwinkel eines Beobachters zu umreißen. Am Ende ist es jedoch genau diese Nüchternheit in seiner Sprache, welche der Geschichte von Massimo Carlotto eine solch immense Kraft verleiht.

punk_storiesÜber Punkrock zu texten ist ein ziemlich ambitioniertes Unterfangen. Die drei Autoren Thomas Kraft, Alexander Müller & Arne Rautenberg haben es trotzdem versucht und mit „Punk & Stories“ eine Kurzgeschichtensammlung herausgegeben, die 56 Erzählungen von unterschiedlichsten Schreiberlingen in sich vereint. Neben der selbst getexteten Abhandlung zum Thema „No Future“ wurden auf etwas mehr als 300 Seiten die persönlichen Eindrücke von Lucy Fricke, Sylvia Geist und Jan Off versammelt, die kleine, bisweilen äußerst amüsante Storys über ihre Berührungspunkte mit The Clash, Slime oder EA80 zu Papier bringen. Geschichten, wie zum Beispiel Sven Amtsberg „Wie mein Vater den Punk sterben ließ“, sind so herzlich und liebenswert getextet, dass man sofort zum Plattenspieler rennen möchte, um die Nadel mal wieder auf eine olle Scheibe der Ramones zu setzen. Überhaupt empfiehlt es sich passend zum Roman die Musik von damals neu für sich zu entdecken. Zudem funktioniert der Ansatz, lieber über das Leben und die Berührungspunkte mit der Musik zu schreiben, anstatt über die Bands selbst, ganz hervorragend. Liegt wahrscheinlich auch daran, dass wir selbst die Musik immer mit bestimmten Momenten unseres Lebens assoziieren. Genau deshalb gehört „Punk & Stories“ auch zu den besten Kurzgeschichtensammlungen, welche ich bisher zum Thema Punkmusik lesen durfte.

sabine-zaplinFür Menschen, die sich hin und wieder nach einem Neuanfang sehnen, wollen wir bei dieser Gelegenheit auf den aktuellen Roman von Sabina Zaplin hinweisen. Die studierte Literaturwissenschaftlerin hat ein Buch veröffentlicht, das stark von ihrer langjährigen Tätigkeit als Regieassistentin und Darstellerin geprägt ist. Allein schon die Einführung der einzelnen Figuren deutet darauf hin, dass sich die Autorin vorgenommen hat, episodisch vorzugehen. Die Geschichte der Protagonisten Claudia, Alma, Jasper, Bela, Anselm, Urs und Fee wird fein säuberlich auseinander gepuzzelt, in einzelne Absätze unterteilt, so dass man anfangs ein wenig das Gefühl hat, hier ein Bühnenstück in literarischer Form präsentiert zu bekommen. Zaplin versteht es sehr gekonnt, die einzelnen Lebensläufe ziel gerichtet miteinander zu verknüpfen und so kollidieren zu Beginn nicht nur Claudias Augen mit einem weißen Licht, welches sie die Kontrolle über ihr eigenes Fahrzeug verlieren lässt, sondern anschließend auch zunehmend die Gemütszustände der einzelnen Figuren. Fans von Episodenfilmen puzzeln sich derweil fröhlich die Textfragmente zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammen. Wobei man sich am Ende schon ein bisschen wundert, dass „Alle auf Anfang“ schon vorüber ist – die kurzen Passagen sorgen nämlich dafür, dass man sich als Leser nahezu von Beginn an in einen Sog der Emotionen gerissen fühlt. Alles in allem ein wirklich kurioses Buch. Und damit erstmal genug für heute. Viel Spaß beim Schmökern.