mit aktuellen Büchern von Nino Haratischwili, David Byrne, Annett Gröschner, Scott Seegert und Guðmundur Óskarsson.
// Mit jemanden innig verbunden zu sein, bedeutet meistens, sich dem Anderen nahezu vollständig auszuliefern. Nino Haratischwili, eine renommierte Theaterautorin und Regisseurin hat sich daran gewagt, diesen Umstand auf ein leidenschaftliches Pärchen anzuwenden. Ivo und Stella gehen sich regelmäßig an die Gurgel. Zumindest im übertragenen Sinne. Sie pendeln zwischen den Extremen. Sie streiten sich, lieben sich, aber es will ihnen einfach nicht gelingen, eine normale Beziehung zu führen. Sie sabotieren im Grunde genommen ihr eigenes, zerbrechliches Glück und sorgen mit ihrer destruktiven Haltung dafür, dass auch der normale Alltag nur schwer zu bewältigen ist. Stella musste als Kind immer mit ansehen, wie ihr Vater eine Affäre zu einer Geliebten pflegte. Der Clou: die Unbekannte war Ivos Mutter. Die Kinder verbringen aufgrund dessen ihre Nachmittage zusammen, beobachten die Eltern beim Liebesspiel und lernen einander näher kennen. Das Geheimnis um die Affäre schweißt die Beiden zusammen, es führt aber auch dazu, dass sie sich selbst die egoistischen Motive der Eltern zu eigen machen und es als reizvoll empfinden, einander zu verletzen und sich immer tiefer ins Unglück zu stürzen. Ob es die beiden Seelenverwandten schaffen, unabhängig voneinander zu existieren? Sie wagen einen Versuch, aber er scheint zum Scheitern verurteilt. Ob sie es schaffen, sich dieses Dilemmas zu entledigen und „das Unglück zurückzuschlagen“, wie Tocotronic es wohl in einem ihrer Songs ausdrücken würden. „Mein sanfter Zwilling“ spürt genau dem nach und blickt in den Abgrund zweier Existenzen, welche untrennbar miteinander verbunden zu sein scheinen.
// David Byrne ist ein echter Tausendsassa. Der Sänger der Pop-Gruppe „Talking Heads“ ist nicht nur als Musiker und Fotograf aktiv, sondern auch ein passionierter Fahrradfahrer. Über seine Erlebnisse auf dem Drahtesel hat er nun ein Buch geschrieben, das mit neun charmanten Geschichten gespickt ist, welche allesamt in unterschiedlichen Metropolen angesiedelt sind. „Bicycle Diaries“ spielt unter anderem in New York, London und Berlin. Der Protagonist wühlt sich durch die Großstädte und versucht in diesem Zusammenhang immer den heißesten Scheiß in Sachen Zeitgeist hinterher zu jagen, pardon… zu radeln. So landet er in diversen Bars und Museen und vielleicht liegt es daran, dass er mit dem Faltbike -im übertragenen Sinne- am Leben vorbei rauscht: aber seine Geschichten strahlen etwas Poetisches aus. Dieser literarische Weichzeichnungsfilter entsteht, indem sich Byrne den einzelnen Metropolen immer mit einer distanzierten Haltung annähert. Man merkt, dass er unvorbehalten an das ganze Unterfangen herangehen will – auf diese Weise gelingt es ihm, den Blick des Beobachters immer wieder auf Aspekte des urbanen Lebens zu lenken, die einem als Einheimischer bisher entgangen zu sein scheinen. „Bicycle Diaries“ ist ein außergewöhnliches Buch, man könnte sagen: es ist ein moderner Abenteuerroman. Das Werk ist nicht nur ein gefundenes Fressen für jeden (passionierten) Fahrradfahrer, es regt am Ende auch dazu an, sich selbst mal auf Urlaubsreise mit dem Drahtesel zu begehen.
// Berlin-Romane bekommt man derweil ja reihenweise um die Ohren gehauen. Unter dem Namen „Walpurgistag“ erscheint nun ein weiteres Exemplar dieser Gattung, das sich im Gegensatz zu vielen Weiteren nicht an den gängigen Schemata abarbeitet. Das Korsett des Werkes lässt zwar vermuten, dass man es hier mit einer weiteren Aneinanderreihung von Klischees zu tun bekommt, dem Buch gelingt es aber dennoch sich aus dem Einheitsbrei zu erheben. Autorin Annett Gröschner vermag es mit bittersüßen Worten eine Geschichte um die alljährlichen Berliner Krawalle zu kreieren, die man auf diese Weise nicht für möglich gehalten hätte. Sie setzt sich unter anderem mit einer gewissen Annja Krobe auseinander, die von der Polizei gesucht wird und die brennenden Autos in den Straßenschluchten nutzen möchte, um sich mit ihrem (leblosen und tief gefrorenen Vater) davon zu stehlen. Das Schweinwerferlicht fällt darüber hinaus auf eine angehende Mädchengang und einen Ex-Stasi-Offizier, die Bewohner eines Altenheims und zwei entnervte Polizisten sowie zahlreiche weitere Akteure. Die Geschichte spielt im Zeitraum von 24 Stunden und mit zunehmender Lauflänge werden immer mehr Querstreben zwischen den einzelnen Protagonisten deutlich. Es scheint fast so, als wollte die Autorin das soziale Gefüge im Rahmen einer schnelllebigen Gesellschaft umreißen. In diesem Zusammenhang spaziert sie auf dem schmalen Grad zwischen Rasanz und Brillanz. Sie erzählt von Hoffnungen und Träumen, die sich abseits gängiger Klischeevorstellungen bewegen. Sie schafft es hinter die Fassade ihrer Figuren zu blicken und anhand zahlreicher Andeutungen zu skizzieren, was die Motive der Handelnden zu sein scheinen. Dass man als Leser in diesem Wust von Ereignissen nicht den Überblick verliert, ist ein kleines Wunder. Genau das macht „Walpurgistag“ allerdings auch zum glaubwürdigsten, witzigsten und energischsten Großstadtroman des Herbstes. Du solltest dich am Besten selbst davon überzeugen.
// All jene, die sich schon seit längerem dazu berufen fühlen, die Weltherrschaft an sich zu reißen, nur um dann hinterher alles in Schutt und Asche zu legen, bekommen nun vom „Goldmann“-Verlag einen passenden Leitfaden vor den Latz geknallt, wie sich ihr innigster Wunsch in die Tat umsetzen ließe. „Vordak – der Unsägliche“ nennt sich „das einzig wahre Handbuch für den Schurken von morgen“ und liefert auf über 200 Seiten eine witzige Anleitung für ihren ganz persönlichen Aufstieg zum Bösewicht. Mit zahlreichen Illustrationen bestückt, entfaltet sich ein augenzwinkerndes Gag-Feuerwerk, welchem allerdings ein Eignungstest voran gestellt worden ist: Selbiger verrät dem Leser, ob er überhaupt das Zeug zum Superschurken hat. Es lohnt sich allerdings auch bei Nichtbestehen weiter zu lesen. Anschließend wird nämlich anhand von treffsicheren Beispielen (unterhalb der Gürtellinie) skizziert, wie man dicke Frauen hinterm Tresen beschimpft, Senioren über die Klippe springen lässt und sich selbst ein fachgerechtes Bösewicht-Outfit zusammen bastelt. Autor Scott Seegert und Illustrator John Martin geben ihr Bestes, damit ihren Lesern am Ende ein herzhaftes „MUAHAHAHAHAHA!“ über die Lippen kommt. Also schmökert mal rein. Es lohnt sich.
// Aufgrund der gegenwärtigen Krisenstimmung sei zum Abschluss noch auf einen gelungenen Roman namens „Bankster“ hingewiesen, der vor kurzem bei der „Frankfurter Verlagsanstalt“ erschienen ist. In dem Buch dreht sich alles um die Finanzkrise in Island, die vor drei Jahren das ganze Land überrumpelt hat. Wir folgen fortan einem gewissen Markús auf seinem Werdegang nach dem Kollaps und müssen miterleben, wie er plötzlich auf der Straße sitzt. Fortan streift er ziellos umher und fühlt sich fortwährend unter Druck gesetzt, an seiner Situation etwas zu ändern. Dazu kommt, dass seine Freundin Harpa, welche noch bis vor Kurzen in einer Bank angestellt gewesen ist, schnurstracks einen neuen Job als Lehrerin findet und ihn immer wieder – wenn auch unbewusst – seine eigene Perspektivlosigkeit vor Augen führt. Um die Tage und Nächte nicht vollends zu vertrödeln, fängt er an, ein Tagebuch zu schreiben, das sich mit der Lage der Nation auseinander setzt. Darüber hinaus scheint seine Freundin etwas vor ihm zu verbergen, wodurch sich die Lage für das Paar immer weiter zuspitzt. Ob es bei den Beiden ebenfalls zum großen Crash kommt oder sich am Ende alles zum Guten wendet? Es lohnt sich das herauszufinden, weil Guðmundur Óskarsson den Leser mit seinen humorvollen Passagen nicht nur zum Schmunzeln, sondern mit gesellschaftskritischen Motiven immer wieder ins Grübeln bringt. Gibt es einen Ausweg für uns? Vermögen wir es, eine Alternative zum Glauben an den größtmöglichen Profit zu entwickeln? Schaffen wir es irgendwann zufrieden zu sein, mit dem, was wir haben / was wir sind? Anhand von Gesprächsnotizen und Tagebucheinträgen gewährt uns der Autor einen Blick auf die unterschiedlichsten Facetten der menschlichen Seele. Er schafft es ein komplexes Thema auf simple Motive herunter zu brechen. Soll heißen: ein großartiges Werk. Und damit Schluss für heute. Wir „lesen“ uns.
UND WAS NUN?