mit Büchern von Jonas Engelmann, Annika Scheffel, Jörg-Uwe Albig, Wolfgang Doebeling und Raquel J. Palacio.
// Wer auf anspruchsvolle Kulturmagazine in ansprechender Verkleidung steht, der kommt an dem Pop-Magazin „Testcard“ bereits seit mehreren Jahren nicht mehr vorbei. Das halbjährlich-veröffentlichte „Heft“ erscheint nicht nur in Buchform, es ist auch mit einer ganzen Menge interessanter Artikel gespickt. Die 22te Ausgabe setzt sich in diesem Zusammenhang differenziert mit dem Thema „Fleisch“ auseinander (zur Erläuterung: jede Ausgabe widmet sich einem übergeordneten Themengebiet, in der Vergangenheit waren das unter anderem die Bereiche „Gender“, „Black Music“, „Humor“ oder „Sex“). In der neuen Ausgabe kommen wir auf diese Weise nicht nur in den Genuss von Beiträgen zu den Themen „Haben Vegetarier_innen besseren Sex?“ oder Lady Gagas aufsehenerregendes Fleisch-Kostüm, das sie bei den „MTV Video Music Awards 2010“ anhatte.
Die Ausgabe setzt sich auch intensiv mit den Themen Kannibalismus, „Projektionen in Fleisch“ (siehe zum Beispiel das grenzüberschreitende Horror-Movie „Hostel“) oder mit Tierschlachtungen im Wien des 19. Jahrhunderts auseinander. Kein Thema scheint zu abwegig für diese Ausgabe, welche gleich zu Beginn ein echtes Schmankerl für jeden Pop-Musik-Fan aus dem Ärmel schüttelt. Da setzen sich Jonas Engelmann und Jelena Kleißler nämlich in ihrem Beitrag „El Mundo Carne“ mit der „(Pop-)Kulturgeschichte des Fleisches“ auseinander und präsentieren uns nicht nur eine imposante Cover-Galerie, sondern konfrontieren uns auch mit den wichtigsten fleischlichen Aspekten des Schaffens von Propagandhi bis Bret Easton Ellis. Ihr solltet also unbedingt mal reinschauen in dieses Werk. Die „Testcard“ sticht nämlich auch diesmal aus dem breiten Kosmos an Pop-Magazinen heraus, weil sie sich nicht nur in stilistischer, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht über die gegenwärtigen Trends hinwegsetzt und sich stattdessen einem zeitlosen Themengebiet annähert.
// Die aufstrebende Nachwuchsautorin Annika Scheffel wiederum veröffentlicht mit „Bevor alles verschwindet“ einen der eindrucksvollsten Romane des noch so jungen Jahres. In ihrem Buch entwurzelt sie einige Dorfbewohner, indem sie deren Heimatort einfach verschwinden lässt. Sie möchte dadurch aufzeigen wie Menschen damit umgehen, wenn sie plötzlich aus ihrer ursprünglichen Umgebung herausgerissen werden. Sie wehrt sich mit ihren Zeilen aber auch gegen eine Gesellschaft, die immer schnelllebiger agiert und dem Fortschritt alles unterordnet. Dabei pendelt ihr Roman zwischen tiefer Trauer und innerer Unruhe, die nur darauf wartet in einem emotionalen Sturm zu münden. Werden sich die Bewohner gegen den drohenden Niedergang wehren? Annika Scheffel gelingt es sehr gekonnt den Unmut und die Hilflosigkeit der Bewohner einzufangen, während eine Gruppe von Gesellschaftern ihren Ort vermisst. Das Dorf liegt nämlich unterhalb eines Sees und in Zukunft soll hier ein großes Erholungsgebiet aus dem Boden schießen. Dabei treffen wir auf die üblichen Figuren in einem typischen Dorf: den Bürgermeister, den Postboten, den Bäcker. Nun sollen sie alle entschädigt werden. Aber wie entschädigt man jemanden für die eigene Existenz? Annika Scheffel gelingt mit „Bevor alles verschwindet“ ein wunderbar poetisches, wie auch skurriles Werk, das man unbedingt gelesen haben sollte.
// Der Bremer Autor Jörg-Uwe Albig erzählt uns in seinem neuen Roman eine ziemlich absurde Geschichte über die Welt der High Society, die einen von Seite zu Seite mehr in ihren Bann zieht. Stella, die Protagonistin seines Romans, verlässt nämlich den roten Teppich des Showgeschäfts, als sie eines Tages über eine Gruppe Obdachloser stolpert, welche sich im Hochglanzviertel verirrt haben. Ihnen folgt die Protagonistin fortan in eine ihr bis dahin völlig fremde Welt und entdeckt dadurch auch eine Seite an sich, welche ihr bis dato völlig fremd gewesen ist. Der Autor hält mit seinem Werk auch der heutigen Gesellschaft einen Spiegel vor, indem er die Grenzen zwischen oben und unten verwischt. „Ueberdog“ ist ein faszinierendes Buch über unsere Gesellschaft, das sich in poetischen Sätzen an unserem Alltag abarbeitet: „An einem sonnigen Tag voller Wind saß ich in einem Café am Schulterblatt“ heißt es zu Beginn des dritten Kapitels. Und weiter: „Ich schloss die Augen. Der Wind wehte Bilder über das Meer wie Hochdruckgebiete, Bilder von Rasenflächen, Pilzköpfen und übermütigen Frauen in kurzen Hosen. Der Wind kühlt meine Herzseite, die Sonne heizte meine Milz“. Jörg-Uwe Albig gelingt es in seinem Roman fast beiläufige Momente mit Spannung aufzuladen und so möchte man seinen Roman auch nicht wieder zur Seite legen, bis die letzten Zeilen des Buchs einen wieder in das wirklich Leben (oder das, was wir dafür halten) zurück schubsen.
// Der langjährige „Rolling Stone“ und „Tip“-Autor Wolfgang Doebeling präsentiert uns in der Zwischenzeit einen bunten Mix seiner besten Interviews mit den Größen im Showgeschäft. In seinem Werk „Pleased To Meet You“ kommen unter anderem so renommierte Künstler wie David Bowie, Mick Jagger oder Paul McCartney zu Wort. Das Schöne an seinen Interviews aber ist, dass der Autor nicht nur das klassische Frage-Antwort-Spiel durchdekliniert, sondern wirkliche Gespräche mit seinem jeweiligen Gegenüber führt. Da er auf über tausend geführte Interviews zurückgreifen kann, bekommen wir hier also die Creme-de-la-Creme seines Schaffens präsentiert und erfahren auf diese Weise einige spannende Anekdoten aus dem Leben der einzelnen Musiker. In seinem Buch konzentriert er sich dabei vorwiegend auf die britische Musik der 50er und 60er Jahre, deren Musik auch heute noch aufgrund zahlreicher Re-Releases im hellen Licht erstrahlt. So kommen neben den drei vorab genannten auch der wunderbare Elvis Costello, Ray Davies von den Kinks und Keith Richards zu Wort. Wer sich also gerne mal auf eine literarische Zeitreise begeben möchte und auf Gespräche abseits des üblichen Business-Bla-Blas steht, sollte unbedingt mal reinschauen. Es lohnt sich.
// In dem Roman „Wunder“ von Raquel J. Palacio dreht sich derweil alles um einen zehnjährigen Jungen namens August, der mit seiner Familie in New York lebt. Nachdem er als Kind mehrmals im Gesicht operiert wurde, wird der junge Mann erst in der fünften Klasse eingeschult und sieht sich nach seiner Ankunft in der Schule auf einmal mit den komischen Blicken seiner Klassenkameraden konfrontiert. Sie behandeln August fortan wie einen Aussätzigen, weil sie verunsichert sind von seinem Äußeren, dabei möchte der junge Mensch doch eigentlich nur eins: ein ganz normales Leben führen. Der Autorin gelingt es in diesem Zusammenhang die Geschichte von August mit dermaßen viel Wortwitz und Hingabe zu erzählen, dass man schon nach wenigen Seiten gefesselt ist von ihrem Werk, das im wahrsten Sinne des Wortes ein kleines literarisches „Wunder“ darstellt. In diesem Zusammenhang werden nicht nur so wichtige Themen wie Toleranz und Integration angesprochen, man bekommt auch eine spannende Geschichte über das Heranwachsen eines jungen Menschen präsentiert, welche vor klugen Sätzen nur so strotzt. Es lohnt sich also mal reinzuschnuppern in dieses Werk. Und wir verabschieden uns erst mal für heute. Lasst es euch gutgehen. Bis zur nächsten Leserunde.
// verfasst von Alexander Nickel-Hopfengart
UND WAS NUN?