// aufgelesen vol. (5)85 – „die verdorbenen“

mit dem Werk „Die Verdorbenen“ von Michael Köhlmeier. // Es gibt Bücher, die werfen einen nicht einfach nur in eine Geschichte – sie lassen einen stumm zurück. Die Verdorbenen von Michael Köhlmeier ist so ein Buch. Und das, obwohl es gerade einmal 160 Seiten umfasst. Was Köhlmeier hier schreibt, ist keine typische Dreiecksgeschichte. Das Dreieck […]

mit dem Werk „Die Verdorbenen“ von Michael Köhlmeier.

// Es gibt Bücher, die werfen einen nicht einfach nur in eine Geschichte – sie lassen einen stumm zurück. Die Verdorbenen von Michael Köhlmeier ist so ein Buch. Und das, obwohl es gerade einmal 160 Seiten umfasst. Was Köhlmeier hier schreibt, ist keine typische Dreiecksgeschichte. Das Dreieck ist nur die Oberfläche – darunter liegen Abgründe. Der Roman spielt Anfang der Siebzigerjahre, aber er ist zeitlos in seiner emotionalen Intensität. Johann, der Ich-Erzähler, kommt als junger Mann zum Studium in die Stadt. Er ist suchend, verletzlich, irgendwie fremd in der Welt. Dann begegnet er Tommi und Christiane – einem Paar, das ihn in seine Welt hineinzieht, mit dem Charisma von Menschen, die zu wissen scheinen, wie Leben funktioniert.

Aber das ist eine Illusion. Von der ersten Seite an liegt eine seltsame Spannung in der Luft. Nicht laut, nicht plakativ – vielmehr wie ein permanentes Flimmern, das sich nicht abschütteln lässt. Köhlmeier schafft es mit einer unheimlichen sprachlichen Präzision, diese unsichtbaren Risse zwischen Menschen fühlbar zu machen, dieses Unausgesprochene, das alles dominiert. Die Geschichte entwickelt sich leise, aber unaufhaltsam. Da ist Liebe, ja, aber auch Macht. Kontrolle. Begehren. Schuld. Was mich wirklich erschüttert hat, ist die Frage, die schon im Klappentext angedeutet wird: Was entsteht aus einer Liebe, wenn sie sich in Obsession verwandelt? Was bleibt von einem Menschen, der mit dem Wunsch lebt, einmal im Leben einen Mann zu töten – und das nie laut sagt? Was bedeutet es, ein „falsches Leben im richtigen“ zu führen, wie es im Buch so treffend heißt? Es geht in diesem Roman nicht um moralische Urteile. Köhlmeier stellt keine Fragen, auf die man einfache Antworten erwarten kann. Er konfrontiert seine Leserinnen und Leser mit der Tatsache, dass wir alle Abgründe in uns tragen – manche tiefer, manche verborgen, manche gefährlich nah an der Oberfläche. Und er tut das ohne den moralischen Zeigefinger, sondern mit einer fast schmerzhaften Ehrlichkeit. Ich mochte, wie sehr dieser Text sich verweigert. Wie wenig er erklärt, wie viel er andeutet. Wie er den Leser zum Mitdenken, Mitfühlen, aber auch zum Mitleiden zwingt. Es ist ein Buch, das sehr literarisch ist – aber nie prätentiös. Köhlmeier schreibt klar, schnörkellos, aber jede Zeile ist präzise gesetzt. Kein Wort ist zu viel. Und doch schwingen in den Sätzen ganze Welten mit. Als Johann rückblickend auf sein jüngeres Ich blickt, spürt man eine ständige Spannung zwischen Erinnern und Verdrängen. Diese Rückschau ist keine nostalgische Reise, sondern eher ein Sezieren der eigenen Dunkelheit. Die Liebe, die er damals empfunden hat – war sie wirklich Liebe? Oder nur ein Spiegel seiner eigenen Obsession? Und kann man jemandem vergeben, dessen Liebe einen an den Rand des Verderbens gebracht hat? Was bleibt, wenn man dieses Buch zuschlägt, ist ein dumpfes Gefühl im Bauch. Keine Katharsis, keine Lösung. Nur die Erkenntnis, dass das Böse nicht immer laut schreit, sondern oft in leisem Einverständnis wächst. Die Verdorbenen ist keine leichte Lektüre. Es ist ein literarisches Echo, das nachhallt, das weiterarbeitet, das sich anfühlt wie ein Schatten, der sich langsam über die Erinnerung legt. Ich kann dieses Buch nicht „empfehlen“, wie man ein schönes Buch für den Strand empfiehlt. Ich kann nur sagen: Wer bereit ist, sich auf diese düstere, intensive, tief verstörende Reise einzulassen, wird belohnt – nicht mit Trost, aber mit einer Wahrheit, die man selten in solcher Klarheit liest. Köhlmeier ist ein Meister der Zwischentöne. Und Die Verdorbenen ist eines dieser Werke, die zeigen, wie viel in der Literatur möglich ist – gerade, wenn sie sich nicht anbiedert. Es ist ein stilles Werk. Und ich werde lange brauchen, bis ich es wirklich loslassen kann.