// voy, voy, voy

Fußball für Sehende? Wie langweilig! „Marcel?“, ruft Ramon, während er den Ball übers Feld dribbelt. „Hier“, meldet sich Marcel und Ramon spielt ihm den Ball zu. Marcel nimmt ihn an, läuft mit ihm in Richtung gegnerisches Tor – und prallt fast mit einem Mitspieler zusammen, der gerade noch rechtzeitig „voy, voy, voy!“, schreit. Marcel dreht […]

Fußball für Sehende? Wie langweilig!
„Marcel?“, ruft Ramon, während er den Ball übers Feld dribbelt. „Hier“, meldet sich Marcel und Ramon spielt ihm den Ball zu. Marcel nimmt ihn an, läuft mit ihm in Richtung gegnerisches Tor – und prallt fast mit einem Mitspieler zusammen, der gerade noch rechtzeitig „voy, voy, voy!“, schreit. Marcel dreht ab, läuft ein paar Schritte und schießt den Ball dann mit einem kräftigen Tritt ins Tor. „Der war drin“, ruft der Torwart – eine notwendige Information, denn Marcel, Ramon, Dimitrios und Gabi spielen keinen gewöhnlichen Fußball. Sie spielen Blindenfußball.
„Im Prinzip ist fast alles so wie beim normalen Fußball“, erklärt Marcel Heim, Blindenfußballer beim BFW (Berufsförderungswerk Würzburg).
Dieses „fast“ schließt aber eine ganze Menge mit ein: Schon beim Spielfeld gibt es einen Unterschied: Es ist nur 40 x 20 Meter groß. Damit die Spielerwissen, wo sich der Ball befindet, besitzt dieser eine eingebaute Rassel, so dass man ihn hören kann. Jede Mannschaft besteht aus vier blinden Spielern und einem sehenden Torwart. Wenn man hört, dass sich ein Spieler mit dem Ball nähert, rufen beide „voy“, was spanisch ist und „ich komme“, bedeutet. So wissen sie, wann sie anhalten müssen, um nicht gegeneinander zu stoßen. Damit die Spieler – nicht alle sind vollständig blind – auch hundertprozentig nichts sehen, tragen sie schwarze Augenbinden.
„Bei einem Turnier gab es mal einen Betrugsvorwurf“, erklärt Marcel, dessen Mannschaft in der Bundesliga spielt. „Jemand behauptete, ein Spieler habe seine Augenbinde nicht richtig auf. Es stellte sich aber hinterher heraus, dass der Mann Glasaugen hatte.“
Die Spieler, die in der Turnhalle des BFW trainieren, tragen Schienbeinschoner und Supensorium – aus nahe liegenden Gründen: „Ab und zu tritt eben doch mal einer daneben“, grinst Marcel. Er hat auch einen speziellen Kopfschutz entwickelt, der möglicherweise bald bei jedem Turnier getragen werden muss. „Den Prototyp habe ich zum Testen weggegeben und dann ist er irgendwie verloren gegangen“, bedauert Marcel. Er muss sich seine Erfindung schließlich noch patentieren lassen.
Während die anderen Mitspieler noch über Rückennummern diskutieren, reicht mir Marcel eine Augenbinde und legt mir den Ball hin. Als ich mir die Augen verbunden habe, läuft er ein paar Schritte von mir weg und ruft „Hier, hier, hier…“. Ich versuche, den Ball zu ihm zu schießen, trete aber gleich bei den ersten Versuchen gründlich daneben. Als ich dann zu ihm dribbeln soll, springt mir der Ball weg, und obwohl ich ihn rasseln höre, habe ich keine Ahnung, wo er sich befindet. Seufzend nehme ich die Augenbinde ab und sehe den Ball, der von mir wegkullert. Marcel lacht. „Orientierung ist das Wichtigste“, sagt er.
Beim BFW Würzburg spielen Männer und Frauen. In der Nationalmannschaft, für die Marcel beinahe aufgestellt worden wäre, dürfen nur Männer spielen. Im Moment haben die Trainer des BFW, Ansgar Lipecki und Martina Junker, allerdings Probleme, überhaupt Mitspieler aufzutreiben: Die Mitglieder des BFW bleiben meist nur ein oder zwei Jahre in Würzburg und ziehen dann weg – auf diese Weise verliert die Mannschaft immer wieder Spieler. Für Turniere schließen sie sich deshalb mit der Berliner Mannschaft zusammen, um überhaupt genügend Leute aufs Feld zu bekommen.
Marcel hat selbst ein ähnliches Problem: Er ist möglicherweise schon nächstes Jahr nicht mehr dabei, weil er dann eine Ausbildung als Fachinformatiker beginnt, die ihn viel Zeit kosten wird. Deshalb hofft er auf Zuwachs, damit sich die Mannschaft nicht auflöst. In ganz Deutschland gibt es schließlich momentan nur neun Mannschaften, im Sommer kommt mit Köln eine zehnte dazu. In Deutschland wurde das Spiel erst mit der hier stattfindenden WM 2006 bekannt, in Brasilien oder Argentinien hingegen wird es schon seit Jahrzehnten gespielt.
Am Ende des Trainings spielen Gabi, Dimitrios, Marcel und Ramon (alle mit Augenbinde) gegen Trainer Ansgar Lipecki (sehend, im Tor) und Martina Junker (sehend, in der Verteidigung). Im Tor der Blinden steht ebenfalls ein Sehender, der je- doch nur zwei-, höchstens dreimal einen Ball abwehren muss. Als es nach ungefähr 20 Minuten 17:1 für Marcels Team steht, lacht Martina Junker und jammert: „Mensch, das ist doch unfair!“
// von johanna popp