// strichcode vol. 13 – „erst in der abenddämmerung erwachte gregor aus seinem schweren schlaf“

Franz Kafkas lyrisches Schaffen ist nicht jedermann Sache. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass in vielen seiner Erzählungen Menschen im Mittelpunkt stehen, die eine gewisse Entfremdung von ihrer Umwelt erfahren haben. Eines seiner bekanntesten Werke namens „Die Verwandlung“ macht da keine Ausnahme. Umso nahe liegender war es, die Geschichte nun noch einmal in illustrierter Form […]

kafkaFranz Kafkas lyrisches Schaffen ist nicht jedermann Sache. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass in vielen seiner Erzählungen Menschen im Mittelpunkt stehen, die eine gewisse Entfremdung von ihrer Umwelt erfahren haben. Eines seiner bekanntesten Werke namens „Die Verwandlung“ macht da keine Ausnahme. Umso nahe liegender war es, die Geschichte nun noch einmal in illustrierter Form zu veröffentlichen. Die Graphic Novel von Eric Corbeyran und Richard Horn transferiert die Erzählung um Gregor Samsa in ein schwermütiges Szenario des Grauens. Die Verwandlung der Figur Gregor Samsa in ein Ungetier strahlt die gleiche verstörende Wirkung aus wie Kafkas Original-Geschichte, wobei der Schrecken hier sehr viel unmittelbarer beim Leser ankommt. Wer sich bisher noch nicht so recht daran wagte, das breite, künstlerische Oeuvre des Prager Autors zu erforschen, hat nun die Möglichkeit, auf diese Weise einen leichteren Zugang zum Schaffen des begnadeten Literaten zu finden. Mit Corbeyran, der bereits seit zwanzig Jahren im Geschäft ist und Zeit seines Lebens schon zahlreiche Comicpreise einheimste, sowie dessen langjährigen Partner Horne, wurden darüber hinaus zwei renommierte Vertreter ihrer Zunft engagiert, sich des schwierigen Unterfangens anzunehmen, eine solch phantasievolles Kuriosum wie „Die Verwandlung“ in glaubwürdige Illustrations-Kunst zu überführen. Man kann in diesem Zusammenhang natürlich anmerken, dass hier über weite Strecken die Phantasie des Lesers auf der Strecke bleibt. Allerdings geht die bedrückende Atmosphäre des Originals nicht verloren, was auch daran liegt, dass sich die beiden Schöpfer sehr nahe an Kafkas Worten orientieren. Alles in allem gehört „Die Verwandlung“ eben deshalb sicher zu den eindrucksvollsten Comic-Adaptionen, die bisher auf Basis einer klassischen Vorlage entstanden sind.

briefe_1Die aktuelle Graphic Novel von Mattotti hinterlässt einen mit dem Gefühl durch das Atelier eines Kreidezeichners zu schlendern und sich dessen Kunstausstellung zu Gemüte zu führen. Vier Geschichten erzählt er uns mit freundlicher Unterstützung der beiden Texter Giandelli und Ambrosi in seiner Graphic Novel „Briefe aus einer fernen Zeit“. Geschichten aus dem Alltag, die er in abstrakte Motive überführt, welche bisweilen auch ohne Text funktionieren. Vorwiegend dreht sich der Band, der bereits im Jahre 2005 erstmals veröffentlicht wurde, um Menschen, die für einen Moment lang ihre Gedanken nach innen richten. Menschen, die mit dem Zug fahren oder am Flughafen festsitzen. Menschen, die sich für einen Moment lang aus ihrem digitalisierten, schnelllebigen Alltag ausklingen möchten. Sie alle werden in den Mittelpunkt dieser vier Kurzgeschichten gerückt, die man sich am Besten einrahmen und ins Wohnzimmer hängen möchte. Die Motive rufen schöne Erinnerungen an zahlreiche Vertreter des Expressionismus wach, Mattotti legt sehr viel Wert darauf, dass seine Motive für jedermann zugänglich bleiben. Seine Bilder erinnern einen an die Gemälde der expressionistischen Phase eines August Robert Ludwig Macke. Sie entführen einen fortwährend in eine andere Welt, so dass man sich diesen 65seitigen Kunstschatz in Graphic Novel-Form auf keinen Fall entgehen lassen sollte.

geschichtenvomlandAnschließend widmen wir uns einer gelungenen Trilogie aus der Feder Jeff Lemires. „Geschichten vom Land“, der erste Band seiner „Essex County“-Ballade, erzählt uns die Story eines zehnjährigen Waisenkinds, der sich nach und nach mit seinem Onkel überwirft. Er findet allerdings einen Weggefährten in Person eines verqueren Tankwarts, der früher mal ein großer Star im Hockey-Bereich gewesen ist. Zusammen träumen sie sich ihre eigene Welt herbei, die immer wieder von diesem Monster namens Realität eingeholt wird. So kann man es durchaus als „Superman“-Referenz mit umgekehrten Vorzeichen deuten, wenn der Protagonist von den gellenden Schreien seines Onkels aus seinen Träumen gerissen wird. Am Ende muss sich eben doch jeder selbst entscheiden, ob er lieber leben oder träumen möchte. Im Bestfall gelingt ihm beides auf einmal. Was uns schnurstracks zum zweiten Band der Trilogie führt, die für einen Harvey und zwei Eisner Awards nominiert worden ist. „Geister Geschichten“ erzählt uns in diesem Zusammenhang die tieftraurige Story eines gewissen Lou, der sich einst als erfolgreicher Hockey-Spieler verdingte und letztlich als einsamer Alkoholiker endete. Er lässt diesbezüglich als tauber, alter Greis sein Leben Revue passieren und setzt sich mit seinen zahllosen Fehlern und Erfolgen auseinander. geistergeschichtenDie Achterbahn der Gefühle scheint einfach kein Ende zu nehmen und so ist man als Leser zunehmend fasziniert von dieser Familiengeschichte, die das Drama nach der Komödie nicht ausspart. Die Karikaturen des Schöpfers scheinen noch dazu die Zerbrechlichkeit seiner Figuren zu transportieren. Alles in allem gelingt es Jeff Lemire auf diese Weise das Alltägliche als Essenz eines vollkommenen Daseins darzustellen. Wenn man nur tief genug gräbt, spuckt die menschliche Seele schon von ganz allein die eine oder andere Horrorstory aus. Umso treffender erscheint mir der Titel des Bandes: „Geister Geschichten“ dreht sich um den alltäglichen Irrsinn, den wir Leben schimpfen. Und dennoch schwingt zwischen den Zeilen immer etwas Tröstliches mit. Das Buch macht nämlich deutlich, dass jede Weggabelung der Ursprung von etwas Hoffnungsvollem ist. Man muss nur den Mut haben, sich auf einen der beiden Wege einzulassen. (Der dritte Band der „Essex County“-Trilogie soll in Kürze unter dem Namen „Die Krankenschwester“ erscheinen).

taniguchi1Nach dem gleichnamigen Bestseller-Roman von Autorin Hiromi Kawakami, welche zu den bekanntesten Schriftstellerinnen Japans zählt, hat sich der gefeierte Manga-Zeichner Jiro Taniguchi daran gewagt, ihr Buch „Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“ in eine epische Bildergeschichte zu überführen. In Selbiger finden zwei Personen zusammen, die sich lieber mit dem Alltäglichen auseinandersetzten, als sich in wundersamen Elfenwelten zu tummeln. Im Zentrum der Geschichte steht eine dreißigjährige, allein stehende Frau, die ein ganz normales Leben führt. Ihr ganzer Tag läuft nach einem bestimmten Muster ab und sie scheint vollends zufrieden damit zu sind. Zumindest so lange, bis sie eines Nachts einem ihr bis dato unbekannten Japanischlehrer über den Weg läuft. Der wiederum hebt ihre Welt aus den Angeln, bringt sie auf andere Gedanken und lässt sie als Person Stück für Stück über sich selbst hinauswachsen. Die Liebe hat mal wieder zugeschlagen und so verabreden sich die Beiden nach dem ersten Treffen zu weiteren Dates, welche sie einander Stufenweise näher bringen. Im Grunde genommen lebt das Buch also davon, dass zwei genügsame Menschen plötzlich Neugier auf etwas ihnen vorher Unbekanntes verspüren. Nach und nach verändern sie sich, was sich sehr schön in Taniguchis schlichten Zeichnungen wieder spiegelt. taniguchi2Die anfängliche Blässe in ihren Gesichtern weicht zunehmend einer euphorischen Grundstimmung, die Beide wie auf Wolken trägt. Es scheint in diesem Zusammenhang fast so, als hätte die Autorin des Buches nur darauf gewartet, dass ein renommierter Zeichner wie Taniguchi sich ihrer Figuren annimmt. Selbiger wiederum nähert sich Kawakamis Figuren mit sehr viel Respekt und sorgt so dafür, dass der natürliche Charme dieser Liebesgeschichte nicht verloren geht. Behutsam schreitet die Handlung voran, was aber nicht bedeutet, dass einem als Leser auch nur eine Sekunde langweilig wäre, während man diese, im „Carlsen Verlag“ auf zwei Bände verteilte Geschichte, mit einem Lächeln auf den Lippen genießt. Wer schon seit Längerem mal wieder dem Trott des Alltags entfliehen möchte, sollte sich unbedingt „Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“ zu Gemüte führen. Diese Graphic Novel wirkt wie eine Frischzellen-Kur für die Seele.

zahras_paradise_01Wie hieß es einst so schön in diesem oft zitierten Song der Band Fehlfarben: „Geschichte wird gemacht“. Seit einigen Jahren ist die Welt nun dabei, sich nachhaltig zu verändern, Anno 2009, kurz nach den Präsidentschaftswahlen im Iran, verschwinden plötzlich zahlreiche Gegendemonstranten von den Straßen. Zahllose Menschen werden eingesperrt und gefoltert. Die Protestierenden sollten eingeschüchtert werden. Doch mit Hilfe des Internets tragen zahlreiche Empörte das Unrecht in die Welt hinaus. Es sind Aufnahmen, die deutlich machen, mich welch brachialer Härte das Regime zuschlägt, wenn es darum geht, den eigenen Machterhalt zu sichern. In der nun erschienenen, durchweg gelungenen Graphic Novel „Zahra´s Paradise“ setzen die beiden Schöpfer Amir (Text) und Khalil (Zeichnungen) genau hier an. Die Geschichte um einen gewissen Mehdi ist zwar reine Fiktion, sie fasst aber zusammen, welch schrecklichen Gräueltaten vielen Menschen in ihrer Heimat widerfahren sind. Mehdi ist von einem Tag auf den anderen wie vom Erdboden verschluckt. Seine Mutter und sein Bruder begeben sich -allen Einschüchterungsversuchen zum Trotz- auf die Suche nach ihm. Ihr Streifzug führt sie unter anderem zum Kharisak-Gefängnis (ein Ort, dessen Darstellung strengstens verboten ist), getragen von der Hoffnung, ihren geliebten Sohn und Bruder doch noch lebend wieder zu finden. Ob ihr Mut am Ende von Erfolg gekrönt ist, wird hier natürlich noch nicht verraten. Ein Ziel aber haben die beiden Macher mit ihrer Geschichte auf jeden Fall erreicht: Sie halten die Erinnerung an das vielen widerfahrene Unrecht am Leben. „Zahra´s Paradise“ ist in diesem Zusammenhang vor allem ein Buch gegen das Vergessen. Debütant Khalil und sein Partner Amir, selbst langjähriger Menschenrechtsaktivist und Dokumentarfilmer, haben sich aus Gründen des Selbstschutzes hinter Pseudonymen versteckt. Umso schonungsloser schildern sie die unmenschlichen Umstände, denen viele Menschen in deren Heimatland ausgesetzt sind. In diesem Zusammenhang vermittelt die Graphic Novel zwar ein weitestgehend subjektives, aber dadurch nur umso direkteres Bild des Grauens. Dieser Comic schreit regelrecht danach, die Welt zu verändern. Umso mehr freut es uns, dass „Zahra´s Paradise“ jetzt auch hierzulande im „Knesebeck-Verlag“ erschienen ist.

ausgetrickstEin echtes Graphic Novel-Epos ist bereits vor geraumer Zeit unter dem Namen „Ausgetrickst“ bei „Edition 52“ erschienen. Das 350seitige Werk dreht sich um sechs Menschen, welche keinerlei Bezugspunkte zueinander aufweisen. Schöpfer Alex Robinson versteht es allerdings vorzüglich die Geschichten der einzelnen Protagonisten nach und nach miteinander zu verknoten. Ein trauriger Rockstar namens Ray, der sich bereits seit Jahren darum bemüht, endlich mal wieder einen richtigen Hit zu landen, eine ambitionierte Bürogehilfin, ein verquerer Fanatiker, eine einsame Kellnerin, eine Tochter, die auf der Suche nach ihren vermissten Vater ist und ein Unterschriftenfälscher, der sich auf das Sportliche spezialisiert hat… sie alle werden von Alex Robinson gekonnt in Szene gesetzt. Fans von Filmen der Marke „Magnolia“ werden mit der Zunge schnalzen, wenn sich nach und nach ein schlüssiges Gesamtbild aus diesem Puzzle der Identitäten zusammensetzt. Man möchte das Werk gar nicht mehr beiseite legen und erkennt schon nach kurzer Zeit, warum so mancher dessen Schöpfer als „Robert Altman des Comics“ bezeichnet. Darüber hinaus ist der Comic als eine Art Countdown konzipiert, welcher von 50 abwärts läuft. Was einen am Ende erwartet, übertrifft schließlich alle Erwartungen, soll hier aber erstmal außen vor gelassen werden. Unabhängig davon lebt „Ausgetrickst“ sowieso vor allem von seinen Charakteren, die Robinson mit viel Liebe zum Detail ausgestattet hat. So dürfen auch Fans des vor kurzem veröffentlichten „Asterios Polyp“ mal einen Blick in diese Graphic Novel werfen. Mit „Ausgetrickst“ hat Alex Robinson eine komplexe Charakterstudie im Comic-Format erschaffen, es gelingt ihm ganz hervorragend den Alltag der Protagonisten in ausdrucksstarke Motive zu überführen. Allein schon die Mimik der zahlreichen Figuren ist bemerkenswert und seine frechen, dem Alltag entliehenen Dialoge sorgen am Ende dafür, dass man immer wieder ins Schmunzeln gerät. Womit wir dann auch schon wieder am Ende wären für heute. Lasst es euch gut gehen. Bis zum nächsten Strichcode.