The Strange Death Of Liberal England haben bei uns ja schon mit ihrem Vorgänger-Werk für ein liebevolles Seufzen gesorgt. Nun flüstert uns die Band pünktlich zum Herbst mit düsterer Gesangsstimme ein paar Melodien ins Ohr, die jedem Fan von Joy Division über Seabear bis Arcade Fire das Herz öffnen werden. „Drown Your Heart Again“ ist ein ambitionierter Brocken, der sich langsam eingroovt, um dann mit vollem Karacho auf dem Tanzboden zu zerschellen. Die Songs sind so dynamisch arrangiert, dass sie bisweilen fast orchestral anmuten. Unter dem breiten Sammelsurium an Instrumentalem schlummern Pop-Melodien, die mit Chören bestückt sind, die so hymnisch anmuten, dass man sich während eines üblen Gewitters auf die Straße stellen möchte, um mit ausgebreiteten Händen gegen die Naturgewalten aufzubegehren. Alles in allem ist „Drown Your Heart Again“ bei aller Schweremut immer ein hoffnungsvolles Werk. Dieses Album ist ein Licht am Ende des Tunnels der Gleichgültigkeiten. Und am Ende auch ein echter Geheimtipp für hoffnungslose Herbstmelancholiker.
„Ich habe viel zu viel Ärger und viel zu wenig Wut“, singt Dota auf ihrem aktuellen Album „Bis auf den Grund“. In diesem Zusammenhang möchte ich vorweg schicken: Dota und die Stadtpiraten sind keine normale Band. Eigentlich klingen viele Stücke, als wären sie von einem Jazz-Ensemble aufgenommen worden und anschließend in poppige Arrangements überführt worden. „Bis auf den Grund“ beglückt aber nicht nur in musikalischer Hinsicht, es sind auch die Texte von Dota Kehr die dieses Album zu einem echten Spektakel machen. Zwischen Trompeten, Vibraphonen und Chorgesängen haucht sie dir Zeilen ins Ohr, die sich fernab aller Klischees bewegen. Einen Satz, wie „Es geht nicht um ein Stück vom Kuchen, es geht um die ganze Bäckerei“ könnte man natürlich passgenau in ein Poesie-Album pinseln, aber dann schickt sie ein „Die Welt ist was Gemachtes und du kriegst deine tägliche Kopie… der Rest ist Utopie“ hinterher. Zeilen wie diese befeuern die Utopie, dass deutschsprachige Musik auch heute noch über die gängigen Klischees hinauszuwachsen vermag. Dota & Die Stadtpiraten vermitteln eine Ahnung davon, wie das gehen könnte.
The Great Bertholinis sind derweil eine Band, auf die sich vom Volksfest-Gänger bis zum Indie-Hörer alle einigen können. Wer erlebt hat, wie die Band auf einem großen Platz in Nürnberg scheinbar spielend das Publikum um den Finger wickelt, der mag gar nicht glauben, dass sie auch im direkten Zuschauer-Duell im kleinen Kellerclub funktioniert. Tut sie aber. Und wie. Das aktuelle Album „Gradual Unfolding Of A Conscious Mind – Part 3“ irritiert nicht nur aufgrund seines bemerkenswerten Artworks, sondern ist auch musikalisch auf Irritation gebürstet. Die 45-minütige Scheibe ist ein kunterbuntes Sammelsurium an Experimentierfreudigkeiten, die aber trotz aller exzentrischen Eskapaden funktioniert, weil die Banjos und Bläsermelodien von Pop-Parts durchzogen sind, die das Unterfangen im Innersten zusammenhalten. Alles in allem muss man die Great Berthoholins für ihren Mut bewundern, so kurz vor dem erwartbaren Durchbruch, ein solch ambitioniertes Werk aus dem Ärmel zu schütteln. Alles in allem kann man sagen: wer auf den Erstling von Arcade Fire steht, der wird dieses Album hier lieben.
Die Mannheimer Musiker von Mardi Gras. BB beglücken uns schon seit Jahren mit einem charmanten Brass-Sound, der sich galant in Richtung Gehörgänge windet. Das 12köpfige Ensemble wirbelt die Nervenbahnen mit Sitar, arabische Grooves und französisches Chansons so herrlich durcheinander, als wollten sie uns mit ihrer Musik in einen kunterbunten Jahrmarkt der weltmusikalischen Köstlichkeiten schubsen. Die Gaumenfreuden auf dem aktuellen Album „Von Humbold Picnic“ sind ein gefundenes Fressen für all diejenigen, die schon lange genug von dem Konsens-Pop aus den Charts haben. „Von Humbold Picnic“ ist ein Album, so weltoffen, wie ein guter Science Ficiton-Streifen. Wohin die Reise geht? Ob nach Afrika, Südamerika oder in unentdeckte Sphären… Am Besten du findest es selbst heraus. Mardi Grass. BB schaffen Popmusik, die grenzenlos anmutet.
Unser liebster Punkrock-Köter aus dem Hause Rantanplan wagt sich derweil mal wieder aus seiner Hundehütte und jault seinen Zuhörern 19 Hymnen vor, die in Sachen Gossenromantik ganz schön weit vorne sind. Ich muss ja zugeben, dass mein Interesse an der Band stark abgenommen hat, seit Marcus Wiebusch nicht mehr am Start ist. Trotz allem sorgt ein treibender Ska-Hit, wie „Grablied der Republik“ schon nach wenigen Sekunden dafür, dass ich meine Mähne im Takt schüttele. Das aktuelle Album „Unleashed“ ist mit seinen 19 Songs nicht nur das Längste seit dem Klassiker „Samba“, es überrascht im vollen Umfang auch mit seiner unbändigen Energie. Die Band scheint in einen Jungbrunnen gefallen zu sein, jedenfalls klingen die Songs, als wären Rantanplan endlich von der Leine gelassen worden. Alles in allem ist „Unleashed“ das bisher poppigste Werk der Bandgeschichte, das geht aber nicht auf Kosten der Emotionen, ganz im Gegenteil: Diese Scheibe hier pulsiert. Wer auf Wackel-Wut-Pop mit Ska-Einschlag steht, sollte sich „Unleashed“ auf keinen Fall entgehen lassen.
Kenneth Minor sind ebenfalls ein paar Zeitgeistige, die sich dazu entschlossen haben, keine musikalischen Grenzen zu akzeptieren. So klingt ihr aktuelles Album auch, als würden Damon Albarn und Bob Dylan in den Ring steigen und in einer britischen Kneipe ein paar Biergläser zerschmettern. Man kann bisweilen zwar auch herrlich mitschunkeln, wenn ein Lagerfeuer-Knaller, wie „Call You Mine“, das Soundsystem flutet, aber die Band läuft trotzdem nie Gefahr in radioformatige Pop-Gefilde abzudriften. Alles in allem könnten die Jungs vielleicht über die volle Länge etwas mehr auf die Kacke hauen. Die raue Produktion, die sich einfach mal im besten Bright Eyes-Stil über gängige Standards in Sachen Sound hinwegsetzt, sorgt aber dafür, dass man bis zum Ende an ihren Lippen klebt. Alles in allem: ein echter Geheimtipp für Liedermacher-Liebhaber der Marke Conor Oberst und Konsorten.
Ebenfalls was für Liedermacher-Fans ist das aktuelle Stelldichein von Dirk Darmstaedter & Bernd Begemann, die sich auf „So geht das Jede Nacht“ daran machen, den Sound der 50er ins Hier und Jetzt zu überführen. Dass die Scheibe trotz aller Rückbesinnung keine reine Nostalgie-Schleuder geworden ist, liegt vor allem daran, dass man sich produktionstechnisch auf zeitgemäßem Niveau bewegt. Die Songs selbst sind Schunkler im besten Begemann-Stil, der einen auf „So geht das Jede Nacht“ wieder Texte der Marke „Susi sagt zu Gabi“ ins Ohr flüstert, die allesamt auch auf sein letzten Solo-Album Platz gefunden hätten. Dass die Songs im Original eigentlich gar nicht von ihm stammen, sondern vergessene Perlen von Peter Kraus, Topsy und Freddy Quinn sind, stört da eigentlich nicht weiter. Soll ja Spaß machen, das Teil und außerdem noch zum Hüften schwingen anregen. Wer also mal wieder so richtig abtanzen möchte, für den könnte sich der Kauf dieses Album als äußerst lohnenswert erweisen.
Audiolith-Fans sollten derweil mal die Ohren spitzen, denn Schwefelgelb liefern auf ihrem neuen Album das perfekte Ergänzungsprogramm zur elektronischen Glückseligkeits-Maschine aus Hamburg. „Das Ende vom Kreis“ ballert los, als wollte die Band alles in Neonfarben ersaufen. Hätte man Schwefelgelb gar nicht zugetraut, dass sie voll auf die 12 zocken – macht aber nichts, weil der Inhalt der Texte nicht darunter leidet. „Alle Sterne“, die aktuelle Single ist ein fulminanter Brecher, um dann im Club für einen Pogo auf der Tanzfläche zu sorgen. Zudem gibt’s natürlich zwischenzeitlich auch immer wieder ein paar subtilere Tracks. In gewisser Weise liefern Schwefelgelb mit diesem Album den passenden Nachschlag bezüglich ihrer an sich schon waghalsigen Live-Shows. Wer auf Pogo-Lektro steht, der sollte sich die Scheibe unbedingt ins Regal stellen. Deshalb: Feiert mal wieder. Bis zum nächsten Zuckerbeat.
UND WAS NUN?