Manchmal sitze ich in einem grauen Zug. Gerade gewittert es draußen. Der Regen zieht sich in Fäden entlang der großen Scheiben neben mir. So sehr, dass man die Landschaft durch all die Tristheit kaum erkennen kann. Nur ab und zu, ganz kurz, wird sie von einem Blitz erhellt.
Es ist schwül, es ist ein Sommergewitter bei Einbruch der Dunkelheit. Zuerst sah man sie, die grellen Blitze, nur schwach aufflackern in weiter Ferne am Horizont, doch nun zieht das Unwetter seine Kreise über dem Landabschnitt, durch den ich gerade fahre.
Die Stimmen der fremden Menschen und die Geräusche des Zuges, das Rauschen auf den Schienen ergeben ein einheitliches lautes Surren, das die Gedanken und den Blick leicht abschweifen lassen. Und so sitze ich vor meinen Lektionen und versuche am Ende eines langen Tages eine schöne Sprache zu lernen, die ich nicht konnte, als du noch Stunden und Tage an meiner Seite verbrachtest. Genauso schnell wie der Blitz kurz die Landschaft erhellt und mir einen klaren Blick darauf verschafft wo ich gerade bin, formen sich Erinnerungen in meinem Kopf.
Wie sich dein Mund bewegte, wenn du in einer dunklen Bar in dieser wohlklingenden, sanften Sprache Tapas für uns bestelltest. Oder wie du in einer fremden, überfüllten Stadt im grellen, flirrenden Sonnenlicht nach dem Weg fragtest, unbekümmert fast schüchtern blickend, als wir uns verlaufen hatten. Ebenso erging es uns, wenn ich wieder eines der kleinen, versteckten Museen besichtigen wollte, das wir auf keinem Stadtplan fanden. Wie du dich dann bei den Fremden bedanktest, meine Hand nahmst und mir nach kurzer Zeit etwas kleinlaut gestandest, dass du nicht alles verstanden hattest. Ich lachte nicht über dich, ich schmunzelte nur. Aber wir lachten gemeinsam. Wir sahen uns an, in die Augen, aber anders, irgendwie wärmer mit einem kleinen Funkeln.
Ja, es sind nicht nur aufflackernde Blitze, meine Erinnerungen, die mir jetzt in den Sinn kommen. Vielmehr sind sie jetzt wie die Regenfäden an den Fensterscheiben des Zuges, rote Fäden, die sich durch mein Leben ziehen. Und ebenfalls Regen, wenn auch nicht stürmisches Gewitter, sondern eher auf der Haut angenehm kühler Nieselregen, erfrischte uns während dieser Tage in einem fremden Land und machte uns glücklich. Nicht lange…, war der Regen. Das Glück eigentlich schon. Manchmal nicht vordergründig, aber unter der Oberfläche konnten wir es spüren, auch wenn wir langsam Fehler am anderen entdeckten, man etwas Falsches sagte. Dennoch wussten wir, dass es da war. Doch das kam alles erst später. In den Tagen, über die ich hier sinne, lernten wir erst langsam von dem anderen Menschen. Erfuhren, was lustig, was traurig, was dunkle Stunden und helle Tage im Leben des anderen gewesen waren. Das kennt man ja, so vieles ist neu und noch interessant. Diese Tage waren ausschließlich helle. Auch wenn wir uns verirrten, wir taten es zusammen und ich weiß noch, welch ein Gefühl es war, wenn deine Lippen auf meinen lagen, vielleicht nur kurz, um zu zeigen, ich bin da, denkst du an mich?
Über den blauschwarzen Himmel ziehen sich grelle verzweigte Äste, verzweigt sind auch die Geschehnisse, an die ich mich erinnere. Kompliziert, verzwickt, schwer zu erklären. Aber ich schreibe nicht über das Ende, sondern den Beginn von uns zwei. Ich weiß auch noch wie sich meine Finger auf deinem Gesicht anfühlten, wenn du dich ein paar Tage nicht rasiert hattest. Wie die Stadt fast glühte und wir uns dennoch eingebildet hatten im Hochsommer eine Sightseeingtour unternehmen zu müssen. Wie wir bei dieser brütenden Hitze nicht zum Baden fuhren, sondern aufgedreht und wissbegierig von einem Punkt zum nächsten in dieser weiten Stadt hetzten, um ja nichts zu verpassen. Baden, nein, nur kurz die Füße ins kühlende Wasser eines Brunnen halten. Welch ein Genuss!
Alles ist verschwommen, der Regen, die Landschaft, ja sogar die Menschen in meinem Abteil verlieren ihre Gesichter. Ich bin in Gedanken versunken. Doch die Erinnerungen sind nicht verschwommen, sie leuchten ganz klar vor meinen Augen auf. Unser kleines Pensionszimmer, unser winziger Balkon, auf den wir uns abends mit zwei Gläsern Wein und zwei Zigaretten quetschten. Das Abendrot über der langsam zur Ruhe kommenden Stadt, aber dennoch die stetig gleichen, monotonen Geräusche einer Millionenmetropole. Dann kühlte die heiße, trockene Luft endlich etwas ab. Ich werde nie das Gefühl vergessen, wenn es nachts so kühl war, dass ich den Ventilator über dem Bett abschalten konnte und nicht mehr seinem mechanischen Surren, sondern deinem ruhigen gleichmäßigen Atem lauschen konnte.
Denkt man im Nachhinein öfter an die guten oder an die schlechten Tage? Ist man in der Gegenwart genauso glücklich wie man in der Zukunft glaubt, in der Vergangenheit gewesen zu sein? Ich denke gerade an deine warme Hand, die die meine so fest in ihrer hielt und mich mitzog, dass ich glaubte, ich würde für ewig in dieser Sicherheit ohne eigenen Kopf und ohne Ziel taumeln können. Ich weiß noch genau wie ich die Postkarten an deine Familie zu Hause formulierte und wie du mich zum Dank auf die Stirn küsstest, ganz leise. Nicht immer müssen Gefühle laut, stürmisch und auf den ersten Blick sein. Manchmal sind die leisen Töne diejenigen, die am lautesten nachhallen. Manchmal ist Stille zwischen zwei Menschen angenehm. Manchmal ist es eben nicht ein Blitzlichtgewitter, sondern warmes, ruhiges Licht. Oder es folgt auf das eine das andere.
Ich sitze in einem grauen Zug, nun ist es völlig dunkel draußen. Man sieht nur sein eigenes Gesicht und sonst fremde Spiegelungen in den Fenstern. Keine Blitze, keine Erinnerung. Vielleicht ist es besser so. Vielleicht könnte ich es längere Zeit nicht ertragen. Ich sehe ein blasses Mädchen im Fenster. Ihre Augen sind leer. Nicht mal ein klitzekleines Funkeln? Vielleicht ist zu viel passiert. Vielleicht ist es gut, nicht in Erinnerungen zu leben, in vergangenen Tagen, vergangenem Glück. Manchmal gibt es auch zu viele „Vielleichts“ zwischen zwei Menschen. Ein letzter Blitz, Gedankenblitz, ich denk an dich, nicht oft…wenn ich kann. Der Zug verlangsamt seine Geschwindigkeit, lautes, unangenehmes Quietschen. Endstation. Der Strom von Fremden verebbt am Ende der Bahnhofshalle. Die Menge zerstreut sich in der Dunkelheit, ich trete als eine der letzten nach draußen an die frische Luft. Es hat beinahe aufgehört zu regnen, ich werde nicht nass. Die Erfrischung hätte eigentlich gut getan, abgelenkt. Es hätte mich nicht gestört. Nur nach Hause, es war ein langer Tag. Die schwüle Hitze hat durch das Gewitter nachgelassen. Meine gedrückte Stimmung und das Schwelgen in der Vergangenheit ebenfalls. Das ist immer eine Frage der Atmosphäre. Es ist spät heut Nacht, zu spät. Die letzten Tropfen fallen auf mein Gesicht. Regen, keine Tränen. Die letzten Ausläufer eines Gewitters.
// text und photo: luise aedtner
UND WAS NUN?