// wie ein fataler systemfehler finanzmärkte und freizeitsportler in die verzweiflung treibt

Frühling. Erwachen vitaler Triebe. Nach Monaten verdrießlicher Starre verspürt das Menschentier einen zwanghaften Tatendrang in seinen Eingeweiden und wird zum willenlosen Sklaven im Dienste des von überall her sprießenden, strotzenden, protzenden Lebens. Unerbittlich ballert es mit Forderungen auf seine treuen Untertanen ein: Iss Spinat! Putz die Fenster! Trink frisch gepressten Karottensaft (oder ersatzweise wenigstens die […]

Frühling. Erwachen vitaler Triebe. Nach Monaten verdrießlicher Starre verspürt das Menschentier einen zwanghaften Tatendrang in seinen Eingeweiden und wird zum willenlosen Sklaven im Dienste des von überall her sprießenden, strotzenden, protzenden Lebens. Unerbittlich ballert es mit Forderungen auf seine treuen Untertanen ein: Iss Spinat! Putz die Fenster! Trink frisch gepressten Karottensaft (oder ersatzweise wenigstens die neuesten frisch aus Erdöl generierten Vitaminpräparate)! Lass endlich deine Bikinizone epilieren! Iss Spinat! Renne solange um den Stadtring herum, bis deine Schenkel die Dimensionen eines knackigen Grasfrosches bekommen! Iss Spinat hab ich gesagt! Wie eine eingerostete Maschinerie muss man das Leben erstmal unter hohem Kosten- und Arbeitsaufwand in Schwung bringen, um anschließend die Früchte seiner Investitionen umso unbeschwerter genießen zu können und glücklich, gesund und strahlend-sauber in den Tag hinein zu vegetieren.

Dem kritikfreudigen Skeptiker und aufmerksamen Miesepeter drängt sich natürlich längst der beklemmende Verdacht auf, dass es sich hierbei um eine Milchmädchenrechnung handelt und die Inbetriebsetzungs- und Wartungskosten dieser Lebensmaschine in einem irgendwie ungesunden Disproportionsverhältnis zu deren Produktionsleistung stehen. Man könnte sich ja zum Beispiel fragen, wo genau in der Menschentier-Ökonomie die Arbeitsinvestition (=Lebenserhaltung) aufhört und der Genussmehrwert (Leben) anfängt. Der gutgläubige Optimist und naive Naturidealist wird nun freudig ausrufen: Bei der Liebe und dem Lachen natürlich!
Falsch. Sex bewirkt die Ausschüttung von Glückshormonen, regt dadurch die Aktivität und Leistungsfähigkeit des Organismus an, ist somit lediglich Mittel zum Zweck und klar unter „Investitionen“ einzuordnen. Gleiches gilt für das Lachen. Außerdem verbrennen beide unzählige Kalorien. Bilanz: Wir lieben und lachen damit wir nicht schlapp und träge werden und den vorzeitigen Tod durch Schlaganfall, Herzinfarkt oder sonstige Formen von Verfettung und Verkalkung finden. Und das ist gut so. Durch neuartige Fitnessstudios wie zum Beispiel Zentren für Lachtherapie oder Swingerclubs werden die Liebe und das Lachen endlich zu dem Status erhoben der ihnen zusteht: dem der sportlichen Betätigung im Dienste der Gesundheit und Lebensverlängerung. Wie auch das Gehirnjogging zum Beispiel. Das tägliche Training der Kopfmuskulatur ist mindestens genauso unersetzlich wie das der anderen Gliedmaßen, denn, ob es einem gefällt oder nicht, auch das Gehirn ist ein lebensnotwendiges Organ, dessen Instandhaltung man sich einiges kosten lassen sollte. Durch die Anschaffung eines der innovativen Ü60-Gameboys zum Beispiel – mit kreislaufanregenden Denkübungen zur sanften und natürlichen Vorbeugung der vorzeitigen Alterung von Hirnzellen. Und wer sich selbst in hohem Alter nicht dem Luxus des Nichtdenkens ergibt und fleißig knifflige Kreuzworträtsel löst, wird mit zusätzlichen Jahren – wenn nicht gar Jahrzehnten – harter Arbeit belohnt, bevor er sich gedankenlos und unbeschwert der Senilität hingeben kann.

Fazit: die Wartungsarbeiten am Menschentier sind mit einem exorbitanten Aufwand an Zeit und Geld verbunden: ca. 98,5% unserer Lebensenergie werden in lebensverlängernde Maßnahmen investiert. Und weitere ca. 1,2% in lebensverkürzende: Spaß-Aktivitäten wie etwa Alkohol- Nikotin- oder Drogenmissbrauch, die zum Ausgleich des immensen Lebens-Leistungsdrucks eingesetzt werden. Diese letzten Schlupfwinkel vor dem Ruf des kategorischen Produktivitätsimperatives werden allerdings, angesichts der neuen Anforderungen der Weltwirtschaftskrise, voraussichtlich bald ein Ende finden. Nun da sämtliche Ressourcen zur Steigerung der Effizienz aktiviert werden müssen, geht die Tendenz stärker denn je in Richtung drastischer Kürzungen bis hin zur endgültigen Eliminierung jeglicher dem Lebensmehrwert undienlichen Aktivitäten. (Erste Schritte zur Engerschnallung des Spaßgürtels wurden ja bekanntlich bereits durch das Rauchverbot eingeleitet).
Und ist es nicht zum Weinen: es wird alles menschenmögliche getan, sämtliche zur Verfügung stehenden Kräfte, die nach dem vielen Joggen und Spinatessen noch übrig bleiben, zur Produktionssteigerung der Lebensmaschine mobilisiert, keine Mühen noch Opfer gescheut, und doch, und doch…wir sind mitten in der Rezession. Man könnte fast meinen, da wäre irgendwo der Wurm drin – eine Art Systemfehler, etwa wie wenn man vor lauter Autowaschen, Tanken und Ölwechseln nicht mehr zum Autofahren kommt, oder wie wenn ein 50 PS-Bio-Motor statt Benzin 55 Pferde pro Kilometer frisst.

Wo bleibt bei all der Arbeit denn noch die Zeit zum Leben? wird sich der gutgläubige Optimist und naive Naturidealist händeringend fragen. Und der kritikfreudige Skeptiker und aufmerksame Miesepeter wird ihm mit einer noch pathetischeren Gegenfrage antworten: Wer oder was ist Leben, wie viel Zeit würde es beanspruchen und welche Mengen davon sind für den Organismus verträglich? Wenn es nämlich das ist, was als Rest übrig bleibt, wenn man von der Existenz als Ganzes die Arbeitsinvestitionen wie Essen, Schlafen, alle Arten von sozialen und sexuellen Aktivitäten, motorischen Betätigungen wie Laufen, Gehen oder Herumstehen, sowie Denken in all seinen intellektuellen bis rudimentären Varietäten, abgezogen hat, dann ist die homöopathische Quintessenz des Menschen als eine Erscheinung vegetativer Natur zu beschreiben – ähnlich einer einzelligen Alge etwa. Eine Pflanze also, die beim täglichen Energieverbrauch eines ganzen Atomkraftwerks nicht einmal den Bruchteil eines Prozentes vom Futterbedarf einer gemeinen Milchkuh liefert. Und dann braucht man sich auch nicht zu wundern, wie es bei einer solchen Produktionsleistung zur Krise kommen konnte.
// von marina wiebe