// die rundheit der gitterstange

„Raus, raus, raus“, sagte nach langem Schweigen Gustav, der sprechende Kanarienvogel auf der Fensterbank, „du musst hier raus!“ Doch Knut blieb stumm und überlegte. Er saß gerade am Schreibtisch, beleuchtet nur durch das schummrige Licht seiner unzulänglichen Schreibtischlampe. Seit mittag schon hatte er an seiner Hausarbeit gearbeitet, was hieß: Er hatte einige Stunden geschrieben, die […]

„Raus, raus, raus“, sagte nach langem Schweigen Gustav, der sprechende Kanarienvogel auf der Fensterbank, „du musst hier raus!“

Doch Knut blieb stumm und überlegte. Er saß gerade am Schreibtisch, beleuchtet nur durch das schummrige Licht seiner unzulänglichen Schreibtischlampe. Seit mittag schon hatte er an seiner Hausarbeit gearbeitet, was hieß: Er hatte einige Stunden geschrieben, die meiste Zeit aber mit leerem Blick aus dem Fenster gestarrt, ohne das meteorpathologische Grau noch wahrzunehmen, das so sehr auf die Seele des Menschen drückt. Nun war es dunkel und Freitag Nacht, und wer etwas auf sich hielt, war im Club, auf dem Weg dorthin oder wenigstens in geselliger Runde, um dem weiteren Verlauf des Abends eine alkoholische Grundlage zu schaffen.


„Ich kann nicht“, antwortete Knut schließlich, „ich habe doch noch Aufgaben zu erledigen.“ Und er öffnete eine kleine Keramikdose, die gefüllt mit verschiedensten Körnern war, holte eines davon heraus und versuchte, seinen sprechenden Kanarienvogel damit zu füttern. Doch Gustav lehnte ab und stelzte die Fensterbank entlang. „Du darfst dich nicht so einsperren“, sagte er dabei, „ich spreche hier aus eigener Erfahrung. Deine Freunde sind alle unterwegs, sie lachen und haben Spaß. Nur du sitzt hier, allein, und könnte sich deine Zimmerdecke bewegen, sie würde dir auf den Schädel fallen!
Knut lauschte bedächtig den Worten seines sprechenden Kanarienvogels und schob das von ihm verschmähte Körnchen in seinen eigenen Mund. „Ich habe doch alles hier, was ich brauche“, antwortete er, und der Vogel lachte ihn aus.
Es ist kein schönes Geräusch, wenn Vögel lachen. Sie besitzen keine Stimmbänder, deshalb können sie ihre Freude nur durch ein krächzendes Stakkato äußern, ein stets bösartig klingendes, akkustisches Flimmern. Und Knut fröstelte es.
„Du bist nicht frei, stört es dich nicht?“ fragte Gustav schließlich. „Die Nachbarn verbieten dir laute Musik, und alleine Spaß zu haben dein Verstand. Verließest du dein Haus, wer weiß schon, welchen Weg du mit deinen Schritten beginnen würdest, die am Anfang nur runter zur Straßenbahn führen sollten?“
Knut antwortete: „Aber ich mag nicht; es ist kalt draußen. Und statt mit meinen Freunden bin ich lieber zuhaus.“
„Gut, dann bleibe in deinem Käfig. Ich werde dir noch einmal zuwinken aus der Freiheit, und du wirst deine Gitterstangen umfassen und dich grämen.“ Dies sagte Gustav, schwang seine schönen, bunten Flügel in die Luft und stieg durchs offene Fenster hinaus in die Nacht empor.
„Aber Gitterstangen sind rund“, dachte Knut und schaute seinem sprechenden Kanarienvogel nach. „Wer kann da schon sagen, wo vorne ist und wo hinten, wo drinnen, und wo draußen?“

Doch eine Antwort bekam er nicht, denn da Gustav gegangen und er selbst geblieben war, hatte seine Frage niemand mehr gehört. Nun war er das erste mal, seit er seinen sprechenden Kanarienvogel gefunden hatte, allein. Und er lernte, dass man auf der Innenseite einer Gitterstange sitzt, wenn etwas nicht mehr so ist, wie man es sich wünscht.

// text von dirk böhler // illustration von britta manger