„Hannah, Liebes, komm rein,“ höre ich die Mutter rufen, als ich die Tür öffne. „Wir haben schon mit dem Essen angefangen. Du bist etwas spät dran.“ „Ich weiß,“ rufe ich, stelle meine Sporttasche in unserer Diele auf den Boden und gehe ins Wohnzimmer, wo meine Eltern am Esstisch sitzen. „Bleich siehst du aus,“ meint meine Mutter mit einem kritischen Seitenblick zu mir. Ich küsse sie beschwichtigend auf die Wange. „Mir geht es gut,“ sage ich. „Mir geht es wirklich sehr gut.“ Als mich meine Mutter wieder streng ansieht, weiche ich ihrem Blick aus und setze mich. „Schön, dass du gekommen bist.“ Mein Vater zwinkert mir zu, wie er es immer tut. Heute wirkt es aber nervös, als ob er nur zwinkern würde, weil er immer zwinkert, wenn ich ihn anschaue. „Ein oder zwei Stück Fleisch?“ fragt mich meine Mutter. Sie beugt sich über den Braten und hält ein langes Messer in der Hand. „Zwei, bitte,“ sage ich hastig, denn ich weiß, dass sie sich wieder beschweren würde, wenn ich nur ein Stück wollte. „Wo sind Frederik und Jana?“ frage ich. „Die Zwillinge schreiben nächste Woche Examen. Wusstest du das nicht?“ sagt Mutter verwundert. „Ja, ich erinnere mich.“ Es gibt eine vage Ahnung in mir. Ich stochere zwischen den Erbsen auf meinem Teller. „Kommst du vom Sport?“ will der Vater wissen. Die Frage ist ganz gewöhnlich und dennoch rutsche ich auf meinem Stuhl unruhig hin und her. Was soll ich ihm antworten? Ich schau in seine Augen und er zwinkert mir wieder zu, ganz hastig. „Schwimmen. Wie immer eben.“ „Wie war euer Urlaub in Spanien?“ frage ich schnell. „Schön,“ meint die Mutter kurz angebunden und will nicht mehr erzählen. Es ist seltsam, dass sie nichts weiter über diese zwei Wochen äußert. Mein Blick geht zum Vater, der aber plötzlich sehr beschäftigt ist mit dem Zerschneiden des Fleisches. Wir schweigen daraufhin und zerkauen geräuschvoll den Braten.Zur vollen Stunde fährt der Kuckuck aus der Schwarzwälder Kuckucksuhr und ruft blechern: Kuckuck. Mich überläuft eine Gänsehaut. Es ist ein altbekanntes Geräusch aus meiner Kindheit, das ich beinahe schon vergessen hatte. Wie schnell man doch Alltägliches vergisst, weil es eben nicht mehr alltäglich ist. Es macht mich ein wenig traurig, dass ich es vergessen hatte. Als der Kuckuck seine Arbeit getan hat, fährt er nicht in sein Gehäuse zurück, sondern bleibt draußen. Das Uhrwerk macht ein kratzendes Geräusch. Die Zeiger bleiben stehen. „Wann wird endlich dieses verdammte Ding weggeworfen?“ ruft die Mutter. Ich bin über ihren Ärger überrascht. „Es ist nicht kaputt,“ sagt der Vater mit fester Stimme. „Der Mechanismus klemmt nur.“ Er steht auf, geht zur Uhr, schiebt den kleinen Holzvogel zurück ins Gehäuse und setzt sich. „Man sollte kaputte Dinge wegwerfen.“ Ich versuche mich daran zu erinnern, wann mein Vater die Uhr dorthin gehängt hat. „Es ist ein schönes Stück,“ sagt er. „Bitte, hilf mir abtragen, Hannah,“ höre ich meine Mutter wütend sagen. Abrupt steht sie auf und geht in die Küche. Ich will meinen Vater anschauen und sehen, was er denkt, doch er hat sich weggedreht und liest in einer Fernsehzeitung. Ich folge meiner Mutter in die Küche. „Was gibt es zum Nachtisch?“ ruft mein Vater. „Vanilleeis und Bratäpfel.“ „Aber du hast nicht vergessen, dass ich mich um Acht mit Ernst treffe?“ „Nein,“ sagt meine Mutter und es schwingt Melancholie und Sadismus in ihrer Stimme. „Ernst,“ wiederholt sie verächtlich, als sie die Äpfel ins Rohr schiebt. Ich sehe ihren Ärger, will aber nicht mehr wissen und sie will auch den Grund für ihren Ärger bei sich behalten. Als wir abspülen und Mutter wild mit der Spülbürste über die Teller fährt, fragt sie mich: „Wie geht es mit deinem Studium, Hannah?“ Diese Frage löst in mir verschiedene Gefühle aus. „Es ist viel Paukerei,“ meine ich langsam. „Ich werde das schon schaffen.“ „Wie liefen die Prüfungen?“ „Gut,“ sage ich erleichtert, denn hier gibt es nur schöne Dinge zu berichten. „Ich habe vielleicht Aussicht auf ein Stipendium, da ich zu den Jahrgangsbesten gehöre.“ Nachdem ich das gesagt habe, beiß ich mir erschrocken auf die Unterlippe. Das Stichwort, das ich meiner Mutter ungewollt zugespielt habe, nimmt sie sofort auf. „Wie kommst du mit dem Geld aus?“ „Es reicht,“ versuche ich leicht zu sagen. Es klingt bemüht. „Vielleicht wird Vater befördert,“ meint Mutter. „Dann wäre natürlich wieder etwas mehr vorhanden.“ Ich nicke. „Warst du wirklich beim Schwimmen?“ fragt mich Mutter unerwartet. Die Strenge, die in ihrer Stimme liegt, macht mir Angst. „Ja.“ „Ich möchte nicht, dass du Dummheiten begehst wegen dem Geld oder so.“ „Aber ich habe keine Geldprobleme,“ sage ich mit belegter Stimme. „Es ist alles in bester Ordnung. Ich habe dich noch nie angelogen.“ „Bisher,“ sagt meine Mutter hart. Anklagend steht das Wort zwischen ihr und mir.Gegen acht verlasse ich mit meinem Vater unsere Wohnung. Wir verabschieden uns von einander auf der Straße und gehen in unterschiedliche Richtungen davon. Ich muss rennen, damit ich nicht die Straßenbahn verpasse. Beim Laufen schlägt die Sporttasche gegen meine Beine undbei jedem Schlag höre ich im Kopf das „bisher“ meiner Mutter. Sie scheint etwas zu ahnen und schon allein diese vage Vorstellung macht mich verrückt. Während die Straßenbahn an den Stationen Dallenbergbad und Steinbachtal vorbei rauscht ohne anzuhalten, denke ich an meine Eltern. Mutter misstraut Vater, aber warum? Ich starre in die Schwärze der Nacht. Autos fahren neben der Straßenbahn. Meine Gedanken schweifen umher und ein unwohles Gefühl steigt in mir auf, dass ich nicht mehr Herr der Lage bin. Dass mein Leben aus den Fugen geraten ist und ich keine Kraft habe, mich zurück zu retten, weil ich Angst habe, vor den unbezahlten Rechnungen und vor den Freunden, die wissen wollen, warum ich schon wieder nicht mitgekommen bin. Müde schließe ich die Augen. Ich habe mir eine bestimmte Reihenfolge zurecht gelegt, wann ich welches Hotel benutze. Es wäre nicht gut, immer dasselbe aufzusuchen. Dieses Mal habe ich mir ein billiges Hotel ausgesucht, eines, das zu einer Hotelkette gehört. Diese sind mir viel lieber als solche, die im Familienbetrieb geführt werden. Denn ich möchte ein abstrakter Gast bleiben. Bei kleinen Hotels, wenn man im Abstand von zwei Monaten auftaucht, läuft man Gefahr, dass immer derselbe am Empfang Dienst hat und irgendwann entsteht Misstrauen. In der Hotellobby sitzt nur ein Mann, der sich hinter einer Zeitung vergraben hat. Als er den Luftzug spürt, den ich durch mein Eintreten verursache, schaut er gelangweilt auf. Er nimmt mich als Gast wahr und schlägt die Zeitung zu. Ich habe weiche Knie wie jedes Mal. Es kommt mir alles vor wie in Zeitlupe, jede einzelne Bewegung, das Zuschlagen der Zeitung, wie sich Blatt auf Blatt legt und zum Schluss seine Hand oben auf. Ich fülle das Formular aus, nehme den Zimmerschlüssel in Empfang und fahre mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Mein Herz schlägt wild. Doch ich spüre auch ein aufgeregtes Kitzeln in meinem Magen.Das Zimmer sieht aus wie immer. Auf dem Kopfkissen liegt Schokolade, ein Stück Seife, Handtücher. Es riecht angenehm nach Pfirsich. Ich weiß vom letzten Mal, dass der Raumerfrischer hinterm Vorhang angebracht ist. Ich betrachte ängstlich das Bett. Ein Zweibettzimmer würde ich nie buchen, da ein Doppelbett einladend undfreundlich aussehen würde. Zuerst gehe ich ins Bad, schalte die Lüftung an und rauche. Es wäre gut, wenn meine Hand aufhören würde zu zittern, denke ich mir, als ich diese betrachte. Nach der dritten Zigarette werde ich ruhiger. Ich stehe auf, ziehe mich aus und beginne in meiner Sporttasche zu suchen. Dabei fallen mir wieder meine Eltern ein und ich muss schlucken. Ich finde die Vaseline nicht, was mich mit dumpfer Panik erfüllt. Meine Kehle fühlt sich wie zugeschnürt an. Ein Klopfen an der Tür lässt mich aufschrecken. Ich lausche und halte den Atem an. Es klopft zweimal lang und zweimal kurz. Jetzt hätte ich es noch in der Hand, es nicht geschehen zu lassen. Ich könnte mich unter der Decke vergraben und nicht reagieren. Er würde vielleicht noch ein paar Mal klopfen, vielleicht sogar die Türklinke herunter drücken, dann aber aufgeben. Der Gedanke an meine kalte Heizung zu Hause bringt mich auf die Beine. Ich werfe mir einen dünnen Morgenmantel über und öffne meinem Schicksal. Vor der Tür steht mein Vater. Ich starre ihn totenblass an und spüre, wie mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Panisch sucht sein Blick in meinem Gesicht, doch er findet keinen Halt. Er schwankt. Er trägt eine blaue Daunenjacke und einen altmodischen Filzhut. An seinem Ringfinger fehlt der Ehering. Es ist seltsam, welche Details man in einer Schrecksekunde wahrnimmt. In dieser Nacht haben wir beide das uneigentliche Leben des anderen entdeckt.// von johanna schricker
// die puppenspieler
„Hannah, Liebes, komm rein,“ höre ich die Mutter rufen, als ich die Tür öffne. „Wir haben schon mit dem Essen angefangen. Du bist etwas spät dran.“ „Ich weiß,“ rufe ich, stelle meine Sporttasche in unserer Diele auf den Boden und gehe ins Wohnzimmer, wo meine Eltern am Esstisch sitzen. „Bleich siehst du aus,“ meint meine […]
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