// aufgelesen vol. (5)15 – „wütendes mädchen auf einer steinbank“

mit dem Werk „Wütendes Mädchen auf einer Steinbank“ von Véronique Ovaldé. // Wir haben gerade ein Buch beendet, das uns nicht mehr loslässt – ein literarischer Wirbelsturm, der einen in einen wahren Sog der Emotionen reißt. Die Rede ist von Véronique Ovaldés neuestem Werk „Wütendes Mädchen auf einer Steinbank“. Bereits der Titel allein macht neugierig, […]

mit dem Werk „Wütendes Mädchen auf einer Steinbank“ von Véronique Ovaldé.

// Wir haben gerade ein Buch beendet, das uns nicht mehr loslässt – ein literarischer Wirbelsturm, der einen in einen wahren Sog der Emotionen reißt. Die Rede ist von Véronique Ovaldés neuestem Werk „Wütendes Mädchen auf einer Steinbank“. Bereits der Titel allein macht neugierig, und glaubt mir, das Buch hält, was es verspricht: Es ist ein packender Kriminalroman, ein tiefgehendes Frauenporträt und ein psychologischer Familienroman in einem. Ein wahrer Pageturner, der tief bewegt und einen nachdenklich zurücklässt. Die Geschichte beginnt auf der fiktiven sizilianischen Insel Iazza, auf der vier Schwestern in einer scheinbar idyllischen, aber doch ziemlich brüchigen Welt aufwachsen. Die Insel selbst ist wie ein Mikrokosmos, in dem die strengen Regeln und alten Traditionen der Familie den Takt vorgeben. Doch schon bald wird klar, dass unter der Oberfläche tiefe Risse klaffen.

Ovaldé wirft uns direkt ins Zentrum einer ereignisreichen Nacht: Es ist der letzte Karneval-Abend, und Aïda, eine der älteren Schwestern, will sich heimlich in das nächtliche Treiben stürzen. Doch ihre kleine Schwester Mimi, das sechsjährige Nesthäkchen der Familie, droht sie zu verraten – und so nimmt Aïda sie notgedrungen mit auf die große Sause. Was wie ein unschuldiger Streifzug durch das Karnevalstreiben beginnt, entwickelt sich schnell zu einer Tragödie von epischem Ausmaß: Mimi verschwindet nämlich spurlos und taucht danach nicht wieder auf. Was mich besonders an Ovaldés Erzählweise fasziniert hat, ist die Intensität, mit der sie die Gefühle und inneren Kämpfe ihrer Figuren darstellt. Aïda, die für das Verschwinden ihrer Schwester verantwortlich gemacht wird, trägt eine Last mit sich, die schwerer wiegt als dass sie sie zu stemmen in der Lage wäre. Sie flieht nach Palermo, um dem toxischen Netz von Schuldzuweisungen und Vorwürfen zu entkommen, das ihre Familie über sie geworfen hat. Doch wie es so oft im Leben ist: Man kann vor der Vergangenheit nicht davonlaufen. Fünfzehn Jahre später holt sie diese wieder ein, als sie die Nachricht vom Tod ihres Vaters erhält und zur Beerdigung zurückkehrt. Und genau hier beginnt das eigentliche Drama des Romans. Ovaldé versteht es meisterhaft, die Spannung zu halten und zugleich tief in die Psyche ihrer Charaktere einzutauchen. Sie zeichnet ein scharfes Bild der innerfamiliären Konflikte und der schwelenden Wut, die nie ganz zum Ausbruch kommt, aber jederzeit überzukochen droht. Ihre Figuren sind weder schwarz noch weiß; sie sind menschlich, verletzlich, und gerade deshalb so greifbar. Die Frage, was damals wirklich mit Mimi passiert ist, bleibt lange unbeantwortet und hängt wie ein Damoklesschwert über der Familie. Die Autorin spielt geschickt mit unseren Erwartungen und lässt uns dabei nie genau wissen, wem wir trauen können. Was mir besonders an diesem Roman gefallen hat, ist die Art und Weise, wie Ovaldé es schafft, die Kulisse – das rauhe, windgepeitschte Sizilien – fast zu einem eigenen Charakter zu machen. Die Insel mit ihrer Schönheit und Härte, mit ihren stillen Zeugen und unausgesprochenen Geheimnissen, spiegelt die inneren Landschaften ihrer Figuren wider. Man spürt förmlich die kühle Steinbank unter sich, die Aïda so oft als Rückzugsort dient – ein Ort, der gleichzeitig Trost und Qual bedeutet. „Wütendes Mädchen auf einer Steinbank“ ist ein Roman, der weit über die Frage hinausgeht, was mit Mimi geschehen ist. Es wirft die Frage auf, wie viel zwischenmenschliche Beziehungen auszuhalten vermögen. Es ist ein Buch über das Erwachsenwerden unter den widrigsten Umständen, das Suchen und das Finden – oder vielleicht auch nicht. Für mich ist Véronique Ovaldés Roman ein absolutes Highlight dieses Jahres. Er fordert uns heraus und zwar im intensiven Maße. Es ist kein Buch, das man liest und dann vergisst. Es bleibt hängen, wie ein Echo, das lange nachklingt. Also, falls ihr Lust habt auf eine emotionale Achterbahnfahrt und auf eine Geschichte, die einem unter die Haut geht – dann ist „Wütendes Mädchen auf einer Steinbank“ genau das Richtige für euch. Verpasst es nicht!