// bewaffnet

Vorbei die Zeiten der rauchschwadenden Gedanken in qualmenden Räumen, in Wodka getränktes Gedränge feuchtheißer Haut im Tanz, benebelte Bewegungen in innig sinnlich wahnsinniger Nähe. Vorbei die Zeiten sehnsüchtigen Schmerzes verborgen in der zarten zivilisierten Fassade, die so oft hinweg glitt, in leisen zärtlichen Schreien. Vorbei die Zeiten des irren, im Wahn ohne sinn haften haltlosen […]

Vorbei die Zeiten der rauchschwadenden Gedanken in qualmenden Räumen, in Wodka getränktes Gedränge feuchtheißer Haut im Tanz, benebelte Bewegungen in innig sinnlich wahnsinniger Nähe. Vorbei die Zeiten sehnsüchtigen Schmerzes verborgen in der zarten zivilisierten Fassade, die so oft hinweg glitt, in leisen zärtlichen Schreien. Vorbei die Zeiten des irren, im Wahn ohne sinn haften haltlosen Verharrens im dunklen Wasser. Vorbei.

Jetzt spaziert er mit ihr über ein weites Feld und sie ergreift seine Hand. Er liebt es, wenn sie am Abend nach Hause kommt und von ihrem Tag erzählt. Und er liebt es, wenn sie ihn nachts in den Arm nimmt. So schlafen sie ein. Und mit ihnen die Angst.

In diesem Zuhause gibt es nur eine Sache, die er nicht mit ihr zu teilen vermag. Die in Vergessenheit gerät. Und jedes Mal weiter in die Ferne rückt, wenn der Sonntag sich dem Ende neigt, sie über die Felder spazieren und danach beim Tee in den Kalender schreiben was sie in dieser Woche erledigt und erlebt haben.

Warum, das hat sie ihn schon so oft gefragt, warum darf keine Musik da sein? Denn oft verzehrt sie sich danach, obwohl sie gelernt hat, darauf zu verzichten. Keine Musik bei Besuchen. Keine Tanzabende. Keine Melodien. Es ist eine Frage der Gewohnheit. Bis zu dem Tag, an dem sie es nicht mehr vermag, die Gedanken daran zu überhören. Unaufhörlich dreht sich die Melodie in ihrem Kopf. Seit sie die Töne gelesen, die Wörter gesehen hat. Auf einem weißen Briefumschlag. Ohne Absender. Adressiert an ihn: Comfortably numb.

Und so beginnt sie unwillkürlich, ihn zu beobachten, obgleich sie es nicht will, tut sie es, unmerklich fast. Und obohl sie nichts bemerkt, das sich verändert hätte, findet sie keine Ruhe. Die Zeit vergeht, ohne dass sie sich in die dunklen Fluten wagt, den weißen Brief bei sich, ungewiss, unbekannt, jagt es sie, hetzt, drängt es sie, immer wieder, kleine vorstoßende Nadeln, leises pulsierendes Klopfen, vehementes Vorstoßen, vorsichtig, bis es gänzlich vorgedrungen, nicht mehr zu überhören ist. Dann tut sie es. Eines Abends spielt sie es an, leise, zunächst, immer lauter dann, immer wieder, dasselbe Lied, das gleiche Spiel. Comfortably numb hört sie auf jeden Ton, tanzend im Vibrieren des Basses sucht sie den tiefsten Klang.

Sie läuft in den Garten, in die Dämmerung, unter den Bäumen versteckt sie sich, als ob sie es müsste, als ob jemand danach verlangte, und im Innern – spielt das Lied, hinter den gläsernen Fassaden, auf die sie ihren Blick heftet, darauf wartend, dass er dahinter zum Vorschein kommt. Endlich sieht sie schemenhaft seine Gestalt das Haus betreten und stehen bleiben. So steht er in einiger Entfernung vor ihr, hinter dem Glas. Reglos. Sekunden. Minuten. Lang. Bis das Lied von vorn beginnt. Dann bewegt er sich und schaltet es aus. Sie wendet sich ab. Voll Scham.

Still sind die folgenden Tage, dunkel die Abende, blass ist er und spricht nicht viel und sie findet keine Ruhe. Je weniger sie bemerkt, desto mehr beginnt sie zu suchen. Irgendetwas. Irgendwann weiß sie selbst nicht mehr was. Was sie weiß, ist dass sie sich nicht mehr in seine Arme fallen lassen kann. Sie ist nun die, die darüber wacht, wie es sich anfühlt, ihn in den Arm zu nehmen. Sie ist nicht mehr Liebende, sie ist jetzt Beobachterin. Verschleiert. Sich, ihn. Verfärbt. Wer ist er? Sie? Alles verläuft sich am Saum ihrer Kraft. Scham kriecht an ihr empor, schmiert sich in ihre Poren, nagt sich fest, an ihrem Haupt, an ihrem Antlitz, ihren Hände, die seine Briefe öffnen.

Bis sie sieht, was sie vielleicht sehen wollte, als sie an einem Sonntagabend nach Hause kommt. Hinter der gläsernen Fassade leuchtet alles hell und inmitten der Lichtflut ist er. Und tanzt. Erst jetzt bemerkt sie dass sie kaum noch Kraft hat. Ich kenne dich nicht, bringt sie hervor. Ich kenne mich so nicht, ich kenne nichts, nichts weiß ich. Nichts. Dann sieht sie dass er weint. Lange geweint haben muss, denn seine Augen sind rot. Sie nimmt ihn in den Arm.

Verzeih, sagt er leise. Ich habe sie geliebt, all die Melodien, ich habe sie gespielt, gehört und gelebt, und ich habe mich vor langer Zeit dagegen entschieden.

Warum?, flüstert sie.
Ich hatte Angst.

*

Hanna Wind