// aufgelesen vol. (5)68 – „das goldene zeitalter“

mit dem Werk „Das goldene Zeitalter“ von Wang Xiaobo. // Wang Xiaobos Das Goldene Zeitalter ist ein Roman, der auf den ersten Blick mit Humor, Erotik und subversiver Ironie spielt – und sich dann als tiefgehende, bitterböse Abrechnung mit der Kulturrevolution und der geistigen Enge des chinesischen Regimes entpuppt. Wang, der zu Lebzeiten in China […]

mit dem Werk „Das goldene Zeitalter“ von Wang Xiaobo.

// Wang Xiaobos Das Goldene Zeitalter ist ein Roman, der auf den ersten Blick mit Humor, Erotik und subversiver Ironie spielt – und sich dann als tiefgehende, bitterböse Abrechnung mit der Kulturrevolution und der geistigen Enge des chinesischen Regimes entpuppt. Wang, der zu Lebzeiten in China kaum beachtet wurde und erst posthum als eine der wichtigsten literarischen Stimmen der Moderne galt, entfaltet hier eine Geschichte, die gleichzeitig absurd komisch und erschütternd wahrhaftig ist. Im Zentrum steht Wang Er, ein junger Intellektueller, der während der Kulturrevolution aufs Land geschickt wird – eine Praxis, die Millionen von Studenten traf, um sie durch harte Arbeit „umerziehen“ zu lassen. Doch Wang Er weigert sich, seine Individualität und seinen freien Geist aufzugeben. Statt sich dem repressiven System anzupassen, schlägt er ihm ein Schnippchen – durch Sarkasmus, Widerspenstigkeit und die einzige Freiheit, die ihm bleibt: seine Sexualität.

Die Affäre mit der älteren Ärztin Chen Qinyang beginnt als Trotzreaktion, als Widerstand gegen eine absurde Realität, in der Gerüchte mächtiger sind als die Wahrheit. Da sie ohnehin beschuldigt werden, miteinander zu schlafen, entscheiden sie sich, die Lügen zur Wahrheit zu machen. Die Liebe wird zum Akt der Rebellion, zum Mittel gegen eine Gesellschaft, die jegliche Selbstbestimmung zu unterdrücken versucht. Doch was zunächst wie ein Spiel erscheint, entfaltet bald eine tiefere Tragik: Die Protagonisten sind Gefangene eines Systems, das keinen Widerspruch duldet, und ihre „Geständnisse“ – ein perfides Ritual des Regimes – sind nichts anderes als kafkaeske Theaterstücke, die sie für ihre Vorgesetzten aufführen müssen. Wang Xiaobo erzählt diese Geschichte mit einer Mischung aus Lakonie, schwarzem Humor und philosophischer Schärfe. Der Erzähler Wang Er ist einer dieser Helden, die sich nicht als Helden verstehen – ein Intellektueller, der sich nicht beugen will, ein Zyniker, der seine Ohnmacht mit Witz kaschiert, ein Mensch, der sich weigert, sich in ein Rädchen des Systems zu verwandeln. Besonders faszinierend ist, wie Wang Xiaobo mit Sprache arbeitet. Seine Prosa ist klar und direkt, aber voller Nuancen und Zwischentöne. Er karikiert die politische Indoktrination, indem er sie in absurde Dialoge verpackt, die gleichzeitig zum Lachen und zum Verzweifeln bringen. Seine Ironie ist scharf, aber nie platt – sie trifft genau ins Herz der repressiven Mechanismen, die das Individuum zu ersticken drohen. Doch Das Goldene Zeitalter ist weit mehr als eine Satire über Chinas politische Vergangenheit. Es ist auch ein Roman über das Erwachsenwerden, über die Sinnsuche, über die verzweifelte Hoffnung, dass es irgendwo auf der Welt einen Ort gibt, an dem man frei sein kann. In der zweiten Hälfte des Buches springt die Erzählung in Wangs spätere Jahre: Er ist nun Universitätsdozent, geschieden, von der Gesellschaft desillusioniert. Seine Erinnerungen an die Vergangenheit sind von Melancholie durchzogen, von dem Wissen, dass das goldene Zeitalter – wenn es denn je existiert hat – unwiederbringlich verloren ist. Wang Xiaobo zeigt, wie totalitäre Systeme nicht nur das politische, sondern auch das persönliche Leben deformieren. Wie sie nicht nur Körper, sondern auch Gedanken kontrollieren wollen. Wie sie Menschen dazu zwingen, sich selbst zu verraten – und damit ihre eigene Identität auszulöschen. Und doch bleibt in all der Dunkelheit immer ein Funken Widerstand: der Humor, der trotzige Eigensinn, die Weigerung, sich dem Wahnsinn vollständig zu unterwerfen. Die Übersetzung von Karin Betz fängt die Vielschichtigkeit der Sprache hervorragend ein. Sie bewahrt den lakonischen Ton, ohne ihn zu glätten, und gibt den Wortspielen und Anspielungen den Raum, den sie brauchen. Dadurch bleibt die Eigenart von Wang Xiaobos Stil erhalten – ein Stil, der mit seiner Mischung aus Direktheit und Subtilität einzigartig ist. Das Goldene Zeitalter ist ein grandioser Roman, der auf mehreren Ebenen funktioniert: als Zeitzeugnis, als Gesellschaftskritik, als philosophische Reflexion über Freiheit und Unterdrückung – und als zutiefst menschliche Geschichte über Liebe und Selbstbehauptung. Wang Xiaobo beweist, dass Humor eine Waffe sein kann, dass Erotik nicht nur Lust, sondern auch Widerstand bedeutet und dass selbst in den dunkelsten Zeiten ein Funke Individualität überleben kann. Wer sich für moderne chinesische Literatur interessiert, wer politische Satiren schätzt oder wer einfach nur ein Buch lesen will, das gleichzeitig intelligent, unterhaltsam und bewegend ist, sollte dieses Werk unbedingt entdecken.