mit dem Werk „HEN NA E – Seltsame Bilder“.

// Es gibt Bücher, die liest man, legt sie beiseite und macht weiter mit dem Alltag. Und dann gibt es Bücher wie HEN NA E – Seltsame Bilder. Ich habe es innerhalb von zwei Abenden verschlungen, und seitdem lässt es mich nicht mehr los. Nicht, weil es besonders laut, brutal oder actiongeladen wäre – im Gegenteil. Sondern weil es auf leise, fast poetische Weise tief ins Unterbewusstsein kriecht. Und dort bleibt. Der Titel klingt harmlos – fast verspielt. „Seltsame Bilder“ klingt nach einem Kunstband, vielleicht sogar nach etwas Skurrilem. Doch was sich hinter diesem unscheinbaren Namen verbirgt, ist ein Krimi von geradezu unheimlicher Intensität. Uketsu (dessen Pseudonym allein schon eine Andeutung auf das Rätselspiel ist, das uns erwartet) hat ein Werk geschrieben, das man eher erlebt als einfach nur liest. Alles beginnt mit einem Blogeintrag. Es ist einer dieser Posts, bei dem man nicht weiß, ob man Zeuge einer privaten Tragödie oder eines gut gemachten Hoaxes wird. Zeichnungen sind angehängt – harmlos auf den ersten Blick, verstörend bei genauerem Hinsehen. Eine Kinderzeichnung zeigt ein Haus – aber nicht irgendein Haus. Die Perspektive stimmt nicht.
Die Fenster sind zu viele. Und wer genau hinsieht, erkennt, dass da jemand im Fenster steht. Immer. Auf jedem Bild. Die Geschichte wird dann von zwei Journalisten aufgenommen – neugierig, skeptisch, ein bisschen abgeklärt. Was als Recherche beginnt, verwandelt sich bald in eine sehr persönliche Obsession. Einer der beiden stirbt. War es ein Unfall? Selbstmord? Oder etwas ganz anderes? Was mich an diesem Buch so beeindruckt hat, ist die Art, wie es Spannung aufbaut, ohne laut zu werden. Es schreit nicht, es flüstert. Und es nutzt Elemente, die man in westlichen Krimis selten so raffiniert findet: Andeutungen, Leerstellen, Symbole. Die Zeichnungen – übrigens im Buch tatsächlich abgedruckt, was das Leseerlebnis noch intensiver macht – sind nicht bloß Gimmicks. Sie erzählen mit. Oder besser: Sie verbergen Geschichten. Und genau das ist das Leitmotiv dieses Romans – die Dinge, die wir nicht sagen können. Nicht sehen wollen. Oder nicht verstehen. Das Tempo ist typisch japanisch: ruhig, fast meditativ. Aber unter der Oberfläche brodelt es. Ich habe mich oft dabei ertappt, dass ich Absätze zweimal gelesen habe, weil ich das Gefühl hatte, etwas überlesen zu haben – eine Spur, eine Anspielung, einen Hinweis, der mir sonst entgeht. Und ja: Man kann HEN NA E durchaus als Rätselbuch lesen. Aber es ist weit mehr als das. Es ist ein psychologisches Porträt von Schuld, Liebe, Verlust – und der Frage, was Wahrheit eigentlich ist. Ein großes Lob auch an die Übersetzung von Heike Patzschke. Selten habe ich einen so feinfühligen, atmosphärisch dichten Ton in der Übertragung japanischer Literatur erlebt. Die Sprachmelodie bleibt erhalten, ohne sich jemals hölzern anzufühlen. Man merkt, dass hier nicht nur übersetzt, sondern verstanden wurde. HEN NA E – Seltsame Bilder ist kein gewöhnlicher Krimi. Es ist ein literarisches Rätsel, ein düsteres Märchen, eine Studie über die Macht von Bildern und die Fragilität menschlicher Wahrnehmung. Es ist klug, atmosphärisch und stellenweise so berührend, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief. Wer Spannung sucht, aber keine Lust auf plumpe Thriller-Kost hat – wer bereit ist, sich auf ein feinsinniges, psychologisch tiefes Spiel einzulassen – wird dieses Buch lieben. Und am Ende mit Fragen zurückbleiben, die man so schnell nicht loswird. Gänsehaut inklusive.
UND WAS NUN?