// aufgelesen vol. (5)90 – „das ministerium der zeit“

mit den Werk „Das Ministerium der Zeit“ von Kaliane Bradley. // Es gibt Bücher, die einen unterhalten, und dann gibt es Bücher wie Das Ministerium der Zeit von Kaliane Bradley, die sich anfühlen wie eine Begegnung mit etwas völlig Neuem – und danach bleibt die Welt ein bisschen verändert zurück. Schon nach den ersten Seiten […]

mit den Werk „Das Ministerium der Zeit“ von Kaliane Bradley.

// Es gibt Bücher, die einen unterhalten, und dann gibt es Bücher wie Das Ministerium der Zeit von Kaliane Bradley, die sich anfühlen wie eine Begegnung mit etwas völlig Neuem – und danach bleibt die Welt ein bisschen verändert zurück. Schon nach den ersten Seiten wusste ich: Das hier wird eine Geschichte, die ich so schnell nicht mehr loslassen werde. Bradleys Debütroman, meisterhaft ins Deutsche übertragen von Sophie Zeitz, spielt mit allem, was ich an Literatur liebe: große Gefühle, intelligente Ideen und diese leise Melancholie, die oft zwischen den Zeilen mitschwingt. Die Grundidee ist eigentlich einfach: Eine junge Frau tritt eine neue Stelle in einem streng geheimen Ministerium an, dessen Spezialgebiet Zeitreisen ist. Ihr Auftrag: Commander Graham Gore, ein Polarforscher aus dem Jahr 1847, der im 21. Jahrhundert „wiederbelebt“ wurde, zu begleiten und ihm das Ankommen in dieser völlig fremden Welt zu erleichtern. Was sich nach einem verspielten, vielleicht sogar humorvollen Plot anhören könnte, entpuppt sich schnell als ein wunderbar vielschichtiges, kluges und gleichzeitig tief emotionales Leseerlebnis.

Bradley erzählt nicht nur von den Absurditäten, die ein Mensch aus dem viktorianischen Zeitalter in unserer hypermodernen Welt erlebt – ja, es ist urkomisch, wenn Gore sich mit Spotify oder Toilettenspülungen auseinandersetzen muss –, sondern sie verwebt all das mit großen Fragen: Was bedeutet Fortschritt wirklich? Was verlieren wir, wenn wir immer nur vorwärts stürmen? Und kann Liebe die Zeiten überdauern? Die Chemie zwischen der Erzählerin und Commander Gore entwickelt sich dabei so natürlich, so zart und glaubwürdig, dass ich oft gar nicht gemerkt habe, wie tief mich ihre Beziehung berührt hat, bis ich plötzlich mit einem Kloß im Hals das Buch weiterlas. Ihr Zusammenspiel ist geprägt von leiser Ironie, tiefem Respekt und einer zaghaften, wunderschönen Annäherung – nur dass Bradley dabei nie ins Kitschige abrutscht. Ihre Figuren bleiben gebrochen, voller Zweifel und Ambivalenz, und gerade das macht ihre Gefühle so echt. Und dann ist da natürlich noch das Ministerium selbst – ein faszinierendes Konstrukt, irgendwo zwischen kafkaeskem Bürokratiemonster und dystopischer Staatsmacht. Je mehr die Erzählerin hinter die Kulissen blickt, desto mehr wird klar: Das Ministerium ist alles andere als der wohlwollende Hüter der Zeit. Die Bedrohung wächst subtil, aber spürbar, und spätestens als die Zeitebenen beginnen zu verschwimmen, als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich überlagern, entwickelt der Roman eine Sogkraft, die mitreisst. Kaliane Bradley schreibt in einer Sprache, die gleichzeitig federleicht und hochpräzise ist. Ihre Dialoge sind scharf, manchmal bitterkomisch, manchmal herzzerreißend ehrlich. Ihre Beschreibungen sind so atmosphärisch, dass man das flirrende Licht eines heißen Londoner Sommers förmlich auf der Haut spürt – oder die erdrückende Stille eines leeren Ministeriumsflurs. Und bei allem Ernst bleibt Das Ministerium der Zeit immer auch ein zutiefst verspielter Roman, der die Grenzen von Genre, Erzählweise und Logik immer wieder auslotet. Eine Zeitreisegeschichte, ja, aber vor allem eine Geschichte über Menschen, Verlust, Hoffnung und den Versuch, im Chaos der Geschichte einen Platz zu finden, an dem man bleiben möchte. Am Ende dieses Romans war ich gleichzeitig glücklich und ein bisschen traurig – so, wie man es nur nach wirklich guten Geschichten ist. Das Ministerium der Zeit ist für mich eines dieser seltenen Debüts, bei dem alles stimmt: Idee, Stil, Figuren, Herz. Und ich beneide wirklich jeden, der dieses Buch noch vor sich hat.