mit dem Werk „See der Schöpfung“ von Rachel Kushner.

// Es gibt Bücher, die liest man – und es gibt Bücher, die greifen nach einem und lassen einen nicht mehr los. See der Schöpfung von Rachel Kushner gehört eindeutig zur zweiten Kategorie. Schon lange habe ich keinen Roman mehr in Händen gehalten, der so klug, so fesselnd und zugleich so verstörend war. Kushner gelingt es, eine Welt zu erschaffen, die auf beklemmende Weise gegenwärtig ist und doch wie aus einer anderen Zeit wirkt. Im Zentrum steht Sadie Smith, eine 34-jährige ehemalige CIA-Agentin, deren Skrupellosigkeit und kühle Berechnung sie zur perfekten Spionin machen. Sie wird von einem geheimnisvollen Auftraggeber in eine abgelegene Region Südfrankreichs geschickt, um eine Gruppe radikaler Umweltaktivisten zu infiltrieren, die verdächtigt wird, hinter einer Reihe von Anschlägen zu stecken. Was zunächst wie ein klassischer Agentenroman anmutet, entwickelt schnell eine ganz eigene Dynamik. Kushner entwirft keine glatte Thrillerwelt voller Hochglanzspionage, sondern zieht den Leser in eine raue, erdige Landschaft aus verfallenen Höfen, nebelverhangenen Wäldern und verlassenen Höhlen.
Genau in diesem unwirtlichen Terrain trifft Sadie auf Bruno Lacombe, den charismatischen Anführer der Aktivistengruppe. Bruno, der in einer Neandertalerhöhle haust und die moderne Zivilisation zutiefst ablehnt, ist eine Figur, die man so schnell nicht vergisst. Seine Überzeugung, dass die Menschheit nur durch eine radikale Rückkehr zu ihren Ursprüngen gerettet werden kann, wirkt zunächst fanatisch, entfaltet aber nach und nach eine irritierende Logik. Sadies Begegnung mit Bruno ist der Wendepunkt des Romans. Die Frau, die gewohnt ist, jede Situation zu kontrollieren, verliert allmählich die Kontrolle – nicht nur über ihren Auftrag, sondern auch über sich selbst. Kushner zeichnet diese innere Erosion mit einer Präzision und Intensität, die einen förmlich atemlos zurücklässt. Die Dialoge zwischen Sadie und Bruno sind wie Duelle, bei denen Worte schärfer schneiden als jede Waffe. Zwischen Faszination und Abscheu, Nähe und Misstrauen entspinnt sich eine Beziehung, die ebenso gefährlich wie unausweichlich erscheint. Was See der Schöpfung so außergewöhnlich macht, ist Kushners Fähigkeit, aktuelle politische und gesellschaftliche Themen – Umweltzerstörung, Systemkritik, individuelle Moral – in eine Handlung einzubinden, die nie bemüht wirkt. Stattdessen treibt sie die Geschichte mit einer Spannung voran, die sich wie ein unaufhaltsamer Sog anfühlt. Der Roman stellt große Fragen, ohne einfache Antworten zu liefern, und genau darin liegt seine Kraft. Kushners Sprache, von Bettina Abarbanell meisterhaft ins Deutsche übertragen, ist klar, schnörkellos und gleichzeitig von einer poetischen Wucht, die einen immer wieder innehalten lässt. Dass See der Schöpfung sowohl auf der Shortlist für den Booker Prize als auch für den National Book Award nominiert wurde, überrascht nicht. Rachel Kushner beweist einmal mehr, warum sie als eine der aufregendsten Stimmen ihrer Generation gilt. Dieser Roman ist Spionagegeschichte, philosophische Reflexion und psychologisches Kammerspiel in einem – und dabei so klug, spannend und düster, dass man ihn kaum aus der Hand legen kann. Wer sich auf dieses Buch einlässt, wird belohnt mit einer Lektüreerfahrung, die lange nachhallt, wie ein Echo aus einer archaischen Welt, das man nicht mehr loswird.
UND WAS NUN?