// aufgelesen vol. (5)93 – „der blutige sommer“

mit den beiden Werken “ Es währt für immer und dann ist es vorbei“ von Anne de Marcken und „Der blutige Sommer“ von Angela Carter. // Wenn man „Es währt für immer und dann ist es vorbei“ von Anne de Marcken und Angela Carters „Die blutige Kammer“ direkt nacheinander liest, spürt man plötzlich eine unsichtbare […]

mit den beiden Werken “ Es währt für immer und dann ist es vorbei“ von Anne de Marcken und „Der blutige Sommer“ von Angela Carter.

// Wenn man „Es währt für immer und dann ist es vorbei“ von Anne de Marcken und Angela Carters „Die blutige Kammer“ direkt nacheinander liest, spürt man plötzlich eine unsichtbare Verbindung zwischen zwei Büchern, die aus völlig unterschiedlichen Zeiten und Sphären stammen und doch miteinander zu sprechen scheinen. Beide Werke sind schwer zu greifen, changierend zwischen Genres, Identitäten und Realitäten – und genau darin liegt ihre Kraft. Sie lassen sich nicht festlegen, nicht zähmen, nicht einrahmen. Sie treten an, um das Erzählen selbst neu zu denken, zu zerlegen, zu entzünden. Und sie stellen dabei mit entwaffnender Klarheit eine Frage, die vielleicht die einzig relevante ist: Was bleibt von uns, wenn alles andere wegfällt? Anne de Marckens Roman, grandios ins Deutsche gebracht von Clemens J. Setz, liest sich wie ein poetischer Spuk. Eine namenlose Frau, ein verlorener Arm, eine zugeflogene Krähe, ein Hotel voller Untoter. Und doch ist das kein klassischer Zombie-Roman, keine Apokalypse mit martialischem Dauerfeuer.

Stattdessen herrscht hier eine stille, dichte Atmosphäre, durchdrungen von Trauer, Sehnsucht und einer merkwürdig sanften Komik. Es ist, als hätte Samuel Beckett einen surrealistischen Liebesroman über das Leben nach dem Tod geschrieben, durchzogen von lakonischer Poesie und existenzieller Fragilität. Die Protagonistin wandert durch eine entrückte Welt, in der die Gesetze von Zeit und Logik aufgehoben scheinen, aber die Erinnerung an eine Umarmung im Sand ihr einziger Kompass ist. Und so wird aus dieser absurden Reise eine zutiefst menschliche Erzählung über das Bedürfnis nach Nähe, Identität und Erlösung. Was de Marcken hier gelingt, ist nicht weniger als ein schwebender Essay über das Bewusstsein selbst, eine Meditation in Form eines melancholisch-schönen Albtraums.

Angela Carter hingegen betritt die literarische Bühne mit der Wucht einer Opernarie. Ihre „Blutige Kammer“ ist ein Sturm aus Bildern, Sinnlichkeit, Blut und Widerstand. Diese Sammlung von Märchennacherzählungen, erstmals 1979 erschienen und jetzt in einer elegant illustrierten Neuübersetzung von Maren Kames bei Suhrkamp wiederentdeckt, ist ein Manifest in Prosaform. Carter schreibt gegen den Strom, gegen Jahrhunderte patriarchaler Narration, gegen die Ohnmacht weiblicher Figuren in traditionellen Märchen. Und sie tut es mit einem Stil, der glüht. Jeder Satz ist eine Miniaturexplosion, barock, sinnlich, aufgeladen mit Symbolen und Widersprüchen. Hier werden nicht nur Rollen vertauscht – sie werden entlarvt, zerlegt, unterwandert. Wenn sich die jugendliche Heldin im Blaubart-Motiv nicht nur weigert, gerettet zu werden, sondern sich selbst rettet, dann ist das nicht nur subversiv, sondern ein Statement: über Lust, Macht, Körper und Sprache. Und doch geht es Carter nie nur um Provokation. Ihre Geschichten sind auch – und vielleicht gerade deshalb – durchdrungen von einer tiefen, fast zärtlichen Melancholie. In dieser Neuauflage begleitet von Julia Kissinas feinen Illustrationen, entsteht eine Symbiose aus Text und Bild, die das ohnehin schon greifbare Fleisch der Sprache noch ein Stück dichter macht. Beide Bücher eint etwas Seltenes: Sie hinterlassen nicht nur Eindruck, sondern Spuren. Es sind Werke, die sich weigern, in klaren Strukturen zu verharren, und die stattdessen die Leserinnen und Leser mit in ihre Unschärfen hineinziehen. Während de Marcken von einer Frau erzählt, die sich selbst im Jenseits sucht, erzählt Carter von Frauen, die sich gegen jede Definition wehren – ob lebendig oder nicht. Die eine Geschichte ist leise, fast unsichtbar, ein Hauch in einem Zwischenreich. Die andere ist ein Aufschrei, ein Fanal, ein literarisches Schwert. Doch beide stellen dieselbe Forderung: Seht hin. Hört zu. Glaubt nicht an das, was man euch immer erzählt hat. In ihrer Gegenüberstellung entsteht etwas Unerwartetes. De Marckens zärtlicher Zombie streckt die Hand aus nach Carters zornigen Gestalten – und umgekehrt. Die Untote ohne Arm sucht nach Liebe in einer Welt, die keine Ordnung mehr kennt. Carters Frauen nehmen sich die Liebe mit Zähnen und Klauen, oder lehnen sie ab, weil sie sie zu lange als Waffe erlebt haben. Beide Bücher, jedes auf seine Weise, durchbrechen die Stille – und füllen sie mit Stimmen, die lange überhört wurden. Stimmen von Frauen, die sich erinnern, auch wenn niemand mehr ihren Namen kennt. Stimmen, die erzählen, was bleibt, wenn nichts mehr ist wie es war. Vielleicht ist das der schönste gemeinsame Nenner: Sie handeln von der radikalen Möglichkeit, sich selbst neu zu erfinden – aus Trümmern, aus Geschichten, aus Knochen und Blut und Staub und Worten. Und was sie dabei hinterlassen, ist nichts Geringeres als Literatur in ihrer aufregendsten Form: wild, frei und unvergesslich.