// aufgelesen vol. (5)96 – „der inugami-fluch“

mit dem Werk „Der Inugami-Fluch“ von Seishi Yokomizo. // Es kommt nicht oft vor, dass ich beim Lesen eines Krimis mitten in der Nacht die Uhr vergesse – aber genau das ist mir mit Der Inugami-Fluch passiert. Ich wollte nur „noch ein Kapitel“, um die Lage zu sortieren. Drei Stunden später saß ich mit klopfendem […]

mit dem Werk „Der Inugami-Fluch“ von Seishi Yokomizo.

// Es kommt nicht oft vor, dass ich beim Lesen eines Krimis mitten in der Nacht die Uhr vergesse – aber genau das ist mir mit Der Inugami-Fluch passiert. Ich wollte nur „noch ein Kapitel“, um die Lage zu sortieren. Drei Stunden später saß ich mit klopfendem Herzen auf der Bettkante, den Roman wie ein Artefakt in der Hand, und dachte: Wie genial ist das denn bitte? Seishi Yokomizo hat mit seinem Ermittler Kosuke Kindaichi eine Figur erschaffen, die man nie ganz durchschaut, aber sofort ins Herz schließt. Ein bisschen zerstreut, mit zerzaustem Haar und stotternder Stimme – aber mit einem messerscharfen Verstand, dem nichts entgeht. Und es braucht genau so einen Ermittler, um in diesem verzweigten Fall, in dieser morbiden, beinahe gotisch anmutenden Familiengeschichte überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Der Plot beginnt mit dem Tod von Sahei Inugami, einem vermögenden Seidenbaron. Klingt nach Wirtschaftskrimi? Weit gefehlt. Denn sobald sein Testament verlesen wird, ist klar: Hier hat jemand Rachegefühle über Generationen hinweg kultiviert. Und aus diesen Gefühlen wird bald tödlicher Ernst.

Die Erben – ein ganzer Strauß zwielichtiger, tragischer, bitterer Figuren – fallen übereinander her. Neid, Gier, verborgene Liebschaften, alte Kriegstraumata – es ist ein Kessel, der brodelt, bis er überläuft. Was Yokomizo so großartig macht, ist die Atmosphäre. Die Geschichte spielt in einem abgelegenen Teil Japans, in einem riesigen, schattenverhangenen Anwesen am See, durchzogen von Erinnerungen, Tabus, und einem Hauch Übernatürlichem. Es fühlt sich an wie Agatha Christie auf Japanisch – aber mit einer psychologischen Tiefe, die richtig unter die Haut geht. Jeder Raum scheint ein Geheimnis zu haben, jedes Familienmitglied eine andere Wahrheit, jede Geste einen doppelten Boden. Und mittendrin: Morde. Verstümmelungen. Zeichen. Masken. Ein Fluch, der alles durchzieht wie ein kalter Windhauch durch ein altes Haus. Manchmal hatte ich beim Lesen das Gefühl, als würde mir jemand leise eine unheimliche Geschichte erzählen – eine, bei der man unwillkürlich näher an die Lampe rückt. Nicht, weil Yokomizo brutal oder reißerisch schreibt – im Gegenteil. Seine Sprache (und die Übersetzung von Ursula Gräfe!) ist klar, elegant, mit einem ganz eigenen Rhythmus. Aber die Bilder, die er erzeugt, sind intensiv. Und seine Kunst, Spannung aufzubauen, ist meisterlich. Besonders faszinierend fand ich, wie Yokomizo das Thema Ehre und Schuld in die Ermittlungen einwebt. Es geht nie nur um das Wer hat’s getan?, sondern auch um das Warum ist es so weit gekommen? Die Vergangenheit lässt niemanden los, die Generationen sind verwickelt wie Seidenfäden – wunderschön und doch verhängnisvoll. Zum Schluss: Der Showdown. Ich will nicht spoilern, aber ich habe den letzten Teil zweimal gelesen, einfach weil ich diesen Moment, in dem alle Fäden zusammenlaufen, so perfekt fand. Das Rätsel ist komplex, aber nie unfair. Und die Auflösung – kühl, scharf, traurig, brillant. Ein düsteres, elegantes Puzzlespiel, das eine eigene Welt eröffnet – mit ihren Ritualen, Ängsten und Abgründen. Wer Krimis liebt, wird diesen Roman verschlingen. Und wer gute Literatur sucht, bekommt hier beides: Spannung und Tiefe, Stil und Substanz. Ich kann nur sagen: Lest dieses Buch. Und sagt mir hinterher, ob ihr beim Verlassen eines dunklen Raumes nicht auch kurz über die Schulter blickt. Nur für den Fall.