mit dem Werk „Lila Eule“ von Cordt Schnibben.

// Es kommt nicht oft vor, dass mich ein Buch so mitreißt, dass ich mich danach für eine Weile etwas verloren in der Gegenwart fühle – wie nach einem Film, der alles durcheinanderwirbelt. „Lila Eule“ von Cordt Schnibben war genau so ein Buch. Ich bin mit einer vagen Neugier eingestiegen – ein Ost-West-Liebesdrama, ein bisschen Musikgeschichte, vielleicht ein Schuss Politik – und wurde förmlich überrollt. Die Geschichte beginnt mit Carl, 18, Rebell aus Bremen, der 1972 der Enge seines spießigen Elternhauses entflieht – samt Nazi-Vater – und in die DDR zieht. Allein diese Umkehr der damals gängigen Richtung fand ich faszinierend. In Ost-Berlin verliebt er sich in Mara, eine starke, kluge, schwer greifbare junge Frau. Doch die DDR duldet keine Hippies, erst recht keine aus dem Westen. Carl fliegt raus – und landet im Gefängnis. Jahre später, nach dem Fall der Mauer, beginnt er die Suche nach Mara – im Chaos des untergehenden Sozialismus, im Nebel seiner Erinnerungen, im Treibsand einer Vergangenheit, die nicht zur Ruhe kommt.
Aber so simpel ist das alles nicht. Was Schnibben hier erzählt, ist viel mehr als eine Liebesgeschichte. Es ist auch ein absurd logischer Agententhriller, in dem Maras Vater – ein paranoider Stasi-Mann – Carl für einen westdeutschen LSD-Dealer hält. Und es ist zugleich ein Generationenporträt der Beat-Club-Ära, der jungen Leute, die zwischen Jimi Hendrix und Janis Joplin, zwischen Flower Power und RAF, zwischen Sehnsucht und Widerstand aufgewachsen sind. Die „Lila Eule“, ein legendärer Club in Bremen, wird zum Symbol dieser Zeit – ein Ort, an dem Musik, Drogen und politische Träume aufeinanderprallen. Ich habe mich beim Lesen oft gefragt, wie Schnibben es schafft, so viele Töne gleichzeitig zu spielen, ohne dass etwas aus dem Takt gerät. Vielleicht, weil er selbst Teil dieser Geschichte war. Man spürt auf jeder Seite: Hier schreibt jemand, der das alles nicht recherchiert, sondern erlebt hat. Die Sprache ist mal wild und ungestüm, dann wieder bitter, fast resigniert. Es gibt Stellen, da will man lachen – und plötzlich kommt eine Wendung, die einem die Luft abschnürt. Was das Buch zusätzlich besonders macht, ist seine visuelle Kraft. Die über dreißig doppelseitigen Illustrationen von Rocket & Wink sind keine bloßen Verzierungen. Sie wirken wie psychedelische Fenster in die Seelen der Figuren, in die politische Realität der 70er – und manchmal in unsere Gegenwart. Ich habe mich dabei ertappt, wie ich länger auf einer Seite hängen blieb, nicht, weil ich den Text nicht verstand, sondern weil das Bild darunter einen ganz eigenen Sog entwickelt hat. Nach über 500 Seiten war ich müde – auf die gute Art. Dieses Buch hat mich gefordert. Es ist dicht, laut, voller Widersprüche. Es springt in der Zeit, in den Perspektiven, in den Genres. Und doch bleibt es immer stimmig. Vielleicht, weil es etwas sehr Wahres trifft: Die Utopien von damals – sie waren schön. Und sie sind gescheitert. Aber das macht sie nicht weniger wichtig. „Lila Eule“ ist für mich ein echtes Ausnahmebuch. Ein Stück Zeitgeschichte, ein politischer Trip, ein literarisches Manifest gegen das Vergessen – und gegen das Kleinmachen. Es erinnert daran, dass unsere Gegenwart aus den Enttäuschungen und Träumen vergangener Generationen gemacht ist. Und dass es verdammt viel Mut braucht, den eigenen Weg zu gehen, wenn die Welt einem sagt, dass das alles nichts bringt. Wer sich für Musik interessiert, für Gesellschaft, für echte Figuren mit Fehlern und Hoffnungen – liest dieses Buch nicht nur, sondern erlebt es. Und trägt es eine ganze Weile mit sich herum.
UND WAS NUN?