// aufgelesen vol. (6)02 – „atmosphere“

mit den Werken „Palo Santo“ und „Atmosphere“. // Zwei Romane, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben, entpuppen sich als überaus bemerkenswerte, literarische Rundumschläge: Palo Santo von Sascha Ehlert und Atmosphere von Taylor Jenkins Reid. Der eine verwurzelt in der vibrierenden Gegenwart Berlins mit dem Blick nach Westen, der andere schwebt zwischen den Sternen, […]

mit den Werken „Palo Santo“ und „Atmosphere“.

// Zwei Romane, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben, entpuppen sich als überaus bemerkenswerte, literarische Rundumschläge: Palo Santo von Sascha Ehlert und Atmosphere von Taylor Jenkins Reid. Der eine verwurzelt in der vibrierenden Gegenwart Berlins mit dem Blick nach Westen, der andere schwebt zwischen den Sternen, im Amerika der frühen 1980er-Jahre. Und doch: Beide erzählen vom Traum, aus dem Gewohnten auszubrechen – von Menschen, die bereit sind, alles aufs Spiel zu setzen, um sich selbst neu zu erfinden. Sascha Ehlert, bekannt als Stimme der Popkultur (u. a. durch das Magazin Das Wetter), legt mit Palo Santo seinen Debütroman vor – und was für einen. Auf etwas mehr als 200 Seiten entfaltet er eine kaleidoskopische Erzählung über Sehnsucht, Liebe und den Wunsch, irgendwo anzukommen, wo man vielleicht gar nicht hingehört, aber unbedingt hinmöchte. Im Zentrum stehen Golo und Hedi, ein Paar, das den Absprung wagt. Oder besser: drei Absprünge, denn Ehlert verschränkt ihre Geschichte kunstvoll mit der des jungen Billy Wilder im Berlin der Zwanzigerjahre und dessen späterer Emigration nach Hollywood.

Dieses Spiel mit Zeiten und Perspektiven wirkt nie konstruiert, sondern eher wie ein Echo, das durch die Jahrzehnte hallt. Berlin, L.A., Palmen, Träume – Ehlert schreibt von Freiheit wie von einer Droge, bittersüß und flüchtig. Was den Roman besonders macht, ist sein Ton: eine lakonische Melancholie, ein Hauch Popliteratur, durchzogen von Philosophie, Filmgeschichte und einer starken Gegenwärtigkeit. Die Figuren wirken dabei zugleich real und leicht entrückt, wie Menschen, die sich selbst beim Leben zusehen. Der Titel Palo Santo – das rituelle Holz, das böse Geister vertreiben soll – steht sinnbildlich für den Wunsch, alte Leben hinter sich zu lassen. Nur: Die Geister, die man loswerden will, reisen oft mit.

Ganz anders Atmosphere – und doch thematisch verwandt. Taylor Jenkins Reid, spätestens seit The Seven Husbands of Evelyn Hugo eine feste Größe der internationalen Bestsellerlisten, widmet sich in ihrem neuen Roman einer Frau, die buchstäblich zu den Sternen greift. Joan Goodwin, Astrophysikerin mit Herz und Verstand, steht 1980 an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter: dem Space-Shuttle-Programm der NASA. Reid gelingt es, den historischen Moment auf brillante Weise zu rekonstruieren – mit einer Heldin, die nicht nur gegen die Schwerkraft, sondern auch gegen gesellschaftliche Erwartungen ankämpft. Atmosphere ist ein zutiefst feministischer Roman, ohne je ideologisch zu wirken. Vielmehr entfaltet er sich als berührende, vielschichtige Erzählung über Leidenschaft, Wissenschaft und das Chaos der Gefühle. Als Joan mitten im Training der Liebe ihres Lebens begegnet, gerät ihr geordnetes Weltbild ins Wanken. Reid stellt keine einfache Entweder-oder-Frage. Es geht nicht darum, ob man zwischen Karriere und Liebe wählen muss – sondern darum, wie man mit beidem in einer Welt zurechtkommt, die selten Raum für alles lässt. Die Autorin zeichnet Joan mit großer Empathie und ohne Pathos. Ihre Sprache ist klar, rhythmisch und oft poetisch – eine perfekte Balance zwischen technischem Realismus und emotionaler Tiefe. Was diese beiden Romane miteinander verbindet, ist mehr als der bloße Wunsch, auszubrechen. Palo Santo und Atmosphere erzählen beide vom Mut, sich selbst neu zu denken – gegen alle Wahrscheinlichkeiten. Während bei Ehlert die Stadt selbst fast zur Figur wird, voller Lärm, Licht und Widerspruch, öffnet Reid den Blick ins All – still, endlos und fremd. Der eine Roman ist urban und verdichtet, der andere episch und sphärisch. Beide spielen mit der Frage: Was kostet es, frei zu sein? Wo Ehlert das Scheitern als Teil der Sehnsucht mitdenkt, gibt Reid der Hoffnung ein langes Echo. Palo Santo wirkt dabei roher, existenzieller, während Atmosphere durch eine fast schon cineastische Eleganz besticht – kein Wunder, dass Reid oft als Autorin mit „Hollywood-Gen“ beschrieben wird. Beide Bücher entfalten ihre Kraft über starke Hauptfiguren, die sich selbst nicht nur begegnen, sondern neu entdecken. Wer sich von Literatur entführen lassen will – nach Berlin, nach Kalifornien, ins All –, dem seien beide Romane wärmstens empfohlen. Palo Santo und Atmosphere sind Erzählungen von Aufbruch und Zweifel, von Fernweh und Nähe, von Liebe und Freiheit. Sie sprechen unterschiedliche literarische Sprachen – doch ihr Herz schlägt im gleichen Takt: für das Leben als großes Abenteuer. Ob unter Palmen oder Sternen – diese Geschichten bleiben.