mit den klassischen Werken „Die Morde in der Rue Morgue“, „Frankenstein“ und „Die Verwandlung“ zum Miträtseln von Jens Schumacher.

// Mit seiner neuen Reihe interaktiver Literaturadaptionen gelingt Jens Schumacher ein überraschend intelligenter, spielerischer und zugleich respektvoller Zugang zu drei der ikonischsten Texte der Weltliteratur. Reclams Rätselabenteuer macht Schluss mit der Vorstellung, Klassiker seien staubtrocken oder nur etwas für literarisch Vorgebildete. Stattdessen lädt Schumacher seine Leser – und Spieler – dazu ein, sich in das Herz der Geschichten hineinzubegeben, Entscheidungen zu treffen, Schicksale zu lenken und sich auf völlig neue Weise mit der Essenz dieser Werke auseinanderzusetzen. Und was auf den ersten Blick wie eine unterhaltsame Spielerei wirkt, entpuppt sich beim genaueren Hinsehen als raffinierte Reflexion über Autorschaft, Leserrolle und Interpretation. Den Auftakt macht Löse „Die Morde in der Rue Morgue“, ein detektivisches Abenteuer, das Edgar Allan Poes richtungsweisende Kriminalerzählung in ein verzweigtes Entscheidungsbuch verwandelt.
Hier übernimmt man die Rolle eines Begleiters oder gar Kontrahenten des brillanten C. Auguste Dupin – und plötzlich geht es nicht mehr nur darum, die Lösung des Falls zu bestaunen, sondern selbst deduktiv zu denken, Hinweise zu bewerten und Wege zu wählen. Jens Schumacher beweist hier ein feines Gespür für Atmosphäre und Spannungsaufbau: Das Spielbuch bleibt stilistisch nahe bei Poe, ohne sich in altertümlicher Sprache zu verlieren, und die Entscheidungen wirken plausibel, oft vertrackt, nie willkürlich.

Besonders spannend ist, dass das Ende nicht vorgegeben ist – und so auch die literarische Wahrheit des Originals hinterfragt wird. Ganz anders, aber ebenso faszinierend ist „Räche dich an Frankenstein“. Statt eines Detektivs oder Beobachters spielt man hier die wohl tragischste Figur der Romantik – das „Monster“, das bei Schumacher eine Stimme bekommt. Und nicht nur das: Der Spieler kann sich entscheiden, ob er seine Menschlichkeit entwickelt oder zum Rächer mutiert. Diese moralische und emotionale Fallhöhe verleiht dem Buch eine ungeahnte Tiefe. Mary Shelleys ethische Fragestellungen – Schöpfung, Verantwortung, Einsamkeit – werden auf sehr direkte Weise erfahrbar. Das Format zwingt zur Auseinandersetzung: Was heißt es, geformt, aber nicht geliebt zu werden? Was bedeutet Freiheit, wenn man ein Produkt eines anderen ist? Schumachers Text verweigert einfache Antworten und öffnet damit überraschend viel Raum für Interpretation – fast mehr als manche klassische Schullektüre. Am eindringlichsten wirkt jedoch Überlebe „Die Verwandlung“, vielleicht weil Franz Kafkas Text ohnehin auf existenziellen Fragen beruht, die durch das Spielbuchformat eine zusätzliche Schärfe erhalten. Als Gregor Samsa, der eines Morgens als Käfer erwacht, erlebt man die Welt nicht nur aus einer fremden Perspektive, sondern ist auch gezwungen, aktiv mit dieser Entfremdung umzugehen. Was tun, wenn die Familie dich nicht mehr als Menschen sieht? Aufgeben, kämpfen, hoffen? Die Entscheidungen, die Schumacher anbietet, sind oft grausam nah an Kafkas düsterer Vision – und doch entsteht daraus kein Zynismus, sondern ein bewegendes Spiel mit Ohnmacht, Identität und Selbstbehauptung.

Wer Kafka kennt, entdeckt hier neue Seiten; wer ihn noch nicht gelesen hat, wird möglicherweise genau durch diesen Zugang für die Tiefe seiner Prosa sensibilisiert. Was alle drei Bücher eint, ist der Respekt, mit dem Jens Schumacher an die literarischen Vorlagen herangeht – und gleichzeitig der Mut, sie für eine neue Leserschaft aufzubrechen. Die Illustrationen von Hauke Kock fügen sich stimmig ein, die Ausstattung ist hochwertig, das Format handlich – ideal für unterwegs oder kurze Lese-Sessions. Und obwohl sie sich an Leser*innen ab 12 Jahren richten, funktionieren sie auch problemlos für Erwachsene, die Lust auf intelligente Literaturvermittlung ohne pädagogischen Zeigefinger haben. In ihrem Zusammenspiel entfalten die drei Bände eine fast schon poetische Idee: Literatur ist keine Einbahnstraße, kein toter Text vergangener Zeiten, sondern ein Raum der Möglichkeiten. Poe, Shelley und Kafka begegnen uns hier nicht als Götter im Bücherolymp, sondern als Gesprächspartner, deren Geschichten wir neu verhandeln dürfen – und vielleicht auch müssen. Wer sich darauf einlässt, wird nicht nur unterhalten, sondern auch berührt und zum Nachdenken gebracht. Ein bemerkenswert gelungenes Projekt, das zeigt, wie klug und lebendig Literaturvermittlung im 21. Jahrhundert aussehen kann.
UND WAS NUN?