mit dem Werk „Westend“ von Volker Kutscher, illustriert von Kat Menschik.

// Es gibt Bücher, bei denen man das Gefühl hat, dass sie größer sind als die Seiten, die man in der Hand hält. Westend von Volker Kutscher, kongenial begleitet von Kat Menschiks Illustrationen, ist so ein Buch. Gerade einmal 112 Seiten, aber jede davon ist vollgesogen mit Geschichte, Nachhall, Stille, Spannung – und einer tiefen Melancholie, die lange bleibt, nachdem man das Buch zugeklappt hat. Ich habe es an einem verregneten Nachmittag gelesen – die Art von Wetter, die perfekt zu der leisen Schwermut passt, die über diesem Buch liegt. Kutscher erzählt darin nicht bloß eine weitere Episode aus dem Kosmos seines berühmten Kommissars Gereon Rath. Er zieht eine Art melancholischen Schlusspunkt – ein Echo aus der Vergangenheit, das im Hier und Jetzt wie ein dunkler Flüsterton weiterlebt. Berlin, Westend, 1973. Rath, inzwischen 74 Jahre alt, lebt im Altersheim. Die goldenen Zeiten der Verbrecherjagd sind lange vorbei, und der Mann, der einst zwischen Weimarer Republik, Nazi-Terror und Nachkriegsschutt ermittelte, ist zu einem Relikt geworden – ein Mann mit Geschichten, die besser ungehört bleiben sollten.
Doch dann taucht ein Historiker auf. Hans Singer. Jung, ehrgeizig, kenntnisreich – und viel zu gut informiert über die dunklen Kapitel in Raths Leben. Kutscher spielt dieses Setting mit der Präzision eines Kriminalschriftstellers und der Intuition eines Psychologen aus. Denn was hier passiert, ist nicht bloß ein Gespräch zwischen zwei Männern – es ist ein mentales Duell, ein Erinnerungsmarathon, ein vorsichtiges Tasten entlang einer Grenze, die nie überschritten werden sollte. Dass Singer nicht einfach nur ein neugieriger Forscher ist, wird schnell klar. Er kennt Raths Vergangenheit, seine alten Kollegen, seine Exfrau – und vor allem interessiert ihn ein dunkles Kapitel, das bisher nie erzählt wurde: Ereignisse aus dem Jahr 1953, zur Zeit des DDR-Volksaufstandes. Ereignisse, in denen die Schatten der Morde von 1931 plötzlich wieder auftauchen – wie Leichen, die man zu tief vergraben glaubte. Was mich an Westend wirklich gepackt hat, ist die Ruhe, mit der Kutscher erzählt. Da ist kein Lärm, kein Krawall. Es ist ein stiller, fast intimer Text – aber darunter brodelt es. Man spürt die Schuld, die unter Raths Schweigen liegt. Man spürt den Druck, der sich langsam aufbaut. Und man spürt die Fragen, die größer sind als dieser eine Mann: Wie viele Wahrheiten lassen sich wirklich begraben? Und was bleibt von uns, wenn die Geschichte weiterzieht? Die Dialoge sind gelungen – so dicht, so reduziert, dass jedes Wort wie unter Spannung steht. Und dann sind da die Illustrationen von Kat Menschik, die nicht nur schmückendes Beiwerk sind, sondern wie Schattenrisse zwischen den Zeilen. Ihre Bilder fangen genau das ein, was Kutscher so meisterhaft andeutet: das Verlorene, das Nicht-Gesagte, das Verdrängte. Sie gibt der Stimmung einen Körper – und der Geschichte einen visuellen Nachhall, der fast filmisch wirkt. Wer die Gereon-Rath-Reihe kennt, wird in Westend auf vertraute Motive stoßen – aber der Ton ist ein anderer. Es ist kein klassischer Krimi, kein rasanter Thriller. Es ist ein Nachklang, ein stiller Epilog, der mehr Fragen stellt, als er beantwortet. Und das ist gut so. Denn es geht hier nicht um Aufklärung, sondern um Verantwortung. Um Erinnerung. Um das, was bleibt, wenn alles vorbei ist – außer der Geschichte. Für mich war Westend eine tief bewegende Lektüre. Nicht nur, weil ich seit Jahren mit Gereon Rath durch die Geschichte Berlins gereist bin, sondern weil dieses Buch zeigt, wie elegant man über Schuld, Schweigen und die Last der Vergangenheit erzählen kann – ohne Pathos, ohne Zeigefinger, aber mit einer erzählerischen Dichte, die ihresgleichen sucht. Wer große Geschichten in kleinen Büchern liebt, der wird Westend sehr genießen.
UND WAS NUN?