// aufgelesen vol. (6)29 – „london rules“

mit dem Werken „Die Sonne und die Mond“ und „London Rules“. // Chris Kraus’ Die Sonne und die Mond und Mick Herron’s London Rules könnten auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher wirken – und doch haben beide Bücher eine faszinierende Gemeinsamkeit: Sie erzählen von vertrackten Beziehungen, Machtspielen und der Art, wie Menschen unter Druck aufeinandertreffen, […]

mit dem Werken „Die Sonne und die Mond“ und „London Rules“.

// Chris KrausDie Sonne und die Mond und Mick Herron’s London Rules könnten auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher wirken – und doch haben beide Bücher eine faszinierende Gemeinsamkeit: Sie erzählen von vertrackten Beziehungen, Machtspielen und der Art, wie Menschen unter Druck aufeinandertreffen, wenn alte Loyalitäten und moderne Ambitionen kollidieren. In Die Sonne und die Mond stehen Freundschaft, Verrat und persönliche Rivalität im Mittelpunkt. Sonja und Jana, einst unzertrennlich, drifteten auseinander, als Verrat und Missverständnisse die Bühne ihrer Beziehung dominierten. Jahre später treffen sie in einer völlig anderen Lebensrealität wieder aufeinander: Jana als gefeierter Comedy-Star, Sonja als Betreiberin eines Bestattungsunternehmens.

Die Wiederbegegnung entfaltet ein komplexes emotionales Geflecht aus Schuld, Erinnerung und unverarbeiteter Wut. Chris Kraus erzählt diese Geschichte mit einer Mischung aus scharfem Beobachtungsvermögen und psychologischer Präzision; die Leserinnen und Leser erleben, wie alte Wunden aufbrechen und sich neue Spannungen aufbauen, während die Figuren versuchen, ihren eigenen „Orbit“ zu finden – mal warm, mal kalt, aber immer intensiv.

Ganz anders, aber in der thematischen Spannung nicht minder fesselnd, entfaltet sich Mick Herron’s London Rules, der fünfte Band seiner Jackson Lamb-Serie, die mittlerweile unter dem Titel “Slow Horses“ auch als TV-Serie adaptiert wurde. Hier geht es weniger um persönliche Rivalitäten als um ein Ensemble aus gescheiterten, exzentrischen Geheimdienstagenten, die mit absurden, teils mörderischen Herausforderungen kämpfen: ein Dorf in Derbyshire wird ausgelöscht, ein Pinguingehege gesprengt, und trotzdem herrscht bei Slough House oft gähnende Langeweile – bis ein gefährlicher Zwischenfall alles ins Rollen bringt. Herron mischt schwarzen Humor, Spannung und hochkomplexe Plotstränge, die zeigen, wie Loyalität, List und menschliche Fehler die Dynamik innerhalb einer dysfunktionalen Agententruppe bestimmen. Setzt man beide Werke in Relation zueinander, wird deutlich, dass sowohl Kraus als auch Herron Figuren ins Zentrum stellen, die zwischen Verbindlichkeit, Loyalität und Verrat navigieren. Während Kraus die intime, psychologische Ebene von Beziehungen beleuchtet, zeigt Herron, wie ähnliche Themen – Vertrauen, Täuschung, Machtspiele – im makroskopischen, oft absurden Kontext geopolitischer und organisatorischer Strukturen wirken. Beide Bücher fordern die Leserschaft heraus, die Komplexität menschlicher Interaktion zu erkennen, sei es auf emotionaler oder institutioneller Ebene, und sie tun dies auf ihre jeweils unverwechselbare Weise: Kraus poetisch, psychologisch fein, Herron spitz, turbulent und sarkastisch.