// aufgelesen vol. (6)28 – „dr. no“

mit den neuen Werk „Dr. No“ von Percival Everett. // Wenn man Dr. No von Percival Everett liest, dann spürt man schnell: Hier nimmt sich jemand die Freiheit, ein Genre zu zerlegen und neu zusammenzusetzen – und das mit einer Brillanz, die man nur bei ganz wenigen Autorinnen und Autoren findet. Everett, 1956 in Georgia […]

mit den neuen Werk „Dr. No“ von Percival Everett.

// Wenn man Dr. No von Percival Everett liest, dann spürt man schnell: Hier nimmt sich jemand die Freiheit, ein Genre zu zerlegen und neu zusammenzusetzen – und das mit einer Brillanz, die man nur bei ganz wenigen Autorinnen und Autoren findet. Everett, 1956 in Georgia geboren und seit vielen Jahren Professor an der University of Southern California, ist längst mehr als nur ein Geheimtipp. In den USA gilt er als einer der wichtigsten Stimmen der Gegenwartsliteratur, und auch im deutschsprachigen Raum hat man ihn spätestens mit James entdeckt, für das er 2024 sowohl den Pulitzer-Preis als auch den National Book Award erhalten hat. Dr. No wirkt auf den ersten Blick wie eine Agentenparodie, eine schräge Geschichte, die voller Bond-Zitate steckt und mit den Versatzstücken des Spionageromans spielt. Der Mathematikprofessor Wala Kitu – ein Experte für das Nichts – wird von einem schwarzen Milliardär namens John Sill als Berater engagiert.

Sill hat ein klares Ziel: Er will den legendären Schuhkarton in Fort Knox knacken, in dem angeblich das »Nichts« aufbewahrt wird. Wer dieses Nichts kontrolliert, soll die Weltherrschaft an sich reißen können. Allein diese Idee ist so absurd, dass man lachen muss – und genau da liegt Everetts Genie: Er nimmt das Lächerliche, dreht es einmal um die eigene Achse und macht daraus eine Satire über Macht, Rache und die Absurdität einer Gesellschaft, in der Milliardäre glauben, alles kaufen, alles beherrschen, alles besitzen zu können. Everett hat nie davor zurückgeschreckt, Rassismus und Machtstrukturen direkt anzugehen, aber er macht es selten frontal. Stattdessen erzählt er in einem Ton, der gleichzeitig spielerisch und schneidend ist, so dass man lacht und sich im nächsten Moment ertappt fühlt. Dass John Sill als schwarzer Milliardär ausgerechnet das Nichts kontrollieren will – als Gegenakt zur jahrhundertelangen Unterdrückung durch Weiße –, ist natürlich kein Zufall. Everett stellt die Frage, was es bedeutet, Rache und Gerechtigkeit zu verwechseln, und er zeigt, wie dünn die Grenze zwischen Befreiung und neuer Form von Machtbesessenheit ist. Gerade weil er selbst als Wissenschaftler denkt, ist sein Umgang mit dem »Nichts« so spannend. Es geht hier nicht nur um Physik oder Philosophie, sondern um die Leerstelle, die Macht in der Gesellschaft hinterlässt: Wer darf bestimmen, was etwas wert ist? Wer darf festlegen, was zählt und was nicht? Dr. No ist dadurch weit mehr als ein Agentenroman. Es ist ein philosophisches Kabinettstück, ein Satirefeuerwerk und zugleich ein bitter ernster Kommentar auf eine Gesellschaft, die sich an Superreiche, Stereotype und Gewalt gewöhnt hat. Dass Everett diese Themen in einer so rasant erzählten, witzigen und manchmal völlig abgedrehten Geschichte verpackt, zeigt, warum er inzwischen als einer der originellsten Erzähler der Gegenwart gefeiert wird. Bei ihm gibt es keine Trennung zwischen Unterhaltung und Ernst – er lässt beides aufeinanderprallen, bis Funken schlagen. Dr. No ist ein Roman, der laut lachen lässt, während er gleichzeitig die unangenehmsten Fragen stellt. Genau deshalb bleibt er lange im Kopf, auch wenn man die letzte Seite längst umgeblättert hat.