mit dem für den Deutschen Buchpreis nominierten Werk „ë“ von Jehona Kicaj.

// Manchmal spürt man schon beim Aufschlagen eines Buches, dass man hier in etwas sehr Persönliches hineingerät – nicht nur in eine erfundene Geschichte, sondern in einen Versuch, Sprache gegen das Verstummen zu setzen. So habe ich ë, das Debüt von Jehona Kicaj, erlebt: ein stiller, zarter, und doch ungeheuer kraftvoller Text über Heimatverlust, Sprachsuche und das Weiterleben mit einer Vergangenheit, die nie wirklich vergeht. Der Titel selbst – ein einzelner Buchstabe – ist bereits ein Manifest. Das „ë“ in der albanischen Sprache ist oft kaum hörbar, aber unverzichtbar. Genau so liest sich auch dieser Roman: eine Stimme, die lange überhört wurde, die sich aber nicht wegdenken lässt. Die Erzählerin wächst als Kind kosovarischer Geflüchteter in Deutschland auf. Sie geht wie andere Kinder in den Kindergarten, in die Schule, auf die Universität – und doch ist sie immer anders, weil ihr die Blicke, die Zuschreibungen, die Ahnungslosigkeit der anderen ununterbrochen spiegeln, dass sie nicht „dazugehört“.
Besonders eindringlich fand ich, wie Kicaj die Erfahrung von Entfremdung in Sprache übersetzt. Es sind keine großen Reden, sondern kleine Szenen: das Stolpern über den eigenen Namen, die Unsicherheit, ob man sich in einer fremden Sprache je ganz zu Hause fühlen kann, die Distanz zwischen dem sicheren Alltag in Deutschland und den Bildern vom Kosovokrieg, die gleichzeitig weit weg und doch unerträglich nah sind. Ich habe beim Lesen oft gespürt, wie die Erzählerin auf zwei Ebenen lebt – äußerlich angepasst, innerlich zerrissen zwischen Nähe und Entfernung. Als der Krieg Ende der 90er-Jahre ausbricht, bleibt er für sie in der Diaspora ein Geschehen, das auf Umwegen ins eigene Leben dringt. Er wird gefiltert durch Nachrichten, durch Gespräche, durch das Schweigen der Eltern. Aber er prägt alles: das Misstrauen, die Angst, den Schmerz, den Körper selbst. Kicaj beschreibt das nicht pathetisch, sondern fast körperlich tastend – als wäre Erinnerung etwas, das in den Muskeln sitzt, im Atem, in jeder Faser. Was mich besonders beeindruckt hat, ist, wie literarisch eigenständig dieser Text ist. Er trägt Spuren von Fragment, von Lyrik, von erzählender Prosa – und genau darin liegt seine Kraft. Nichts wirkt glattgebügelt oder gefällig; es ist ein Suchen und Finden, ein Ausprobieren, ein Aneignen von Sprache. So, wie die Erzählerin nach einer Stimme ringt, ringt auch der Text selbst nach Form – und das macht ihn so authentisch. Beim Lesen musste ich mehr als einmal innehalten. Nicht, weil der Text schwer zugänglich wäre, sondern weil er mir Räume geöffnet hat, über die ich bisher kaum nachgedacht hatte. Der Kosovokrieg ist in Deutschland fast unsichtbar – und doch hat er Biografien geprägt, Leben zerschlagen, Familien auseinandergerissen. Kicaj schafft es, dieses Unsichtbare sichtbar zu machen, ohne erhobenen Zeigefinger, sondern mit einer Sprache, die leise insistiert: Hör mir zu. ë ist für mich kein Debüt, das man einfach weglegt, wenn man die letzte Seite gelesen hat. Es ist ein Buch, das nachhallt, weil es nicht nur von Verlust erzählt, sondern auch davon, dass Sprache – so brüchig sie ist – ein Ort sein kann, an dem man sich selbst wiederfindet.
UND WAS NUN?