// aufgelesen vol. (6)16 – „schwebende lasten“

mit dem für den Deutschen Buchpreis nominierten Werk „Schwebende Lasten“ von Annett Gröschner. // Annett Gröschner legt mit Schwebende Lasten einen Roman vor, der wie kaum ein anderes Werk das Gewicht eines ganzen Jahrhunderts in das Leben einer einzelnen Frau legt. Es ist ein Buch, das sofort spürbar macht, warum Gröschner zu den wichtigsten Stimmen […]

mit dem für den Deutschen Buchpreis nominierten Werk „Schwebende Lasten“ von Annett Gröschner.

// Annett Gröschner legt mit Schwebende Lasten einen Roman vor, der wie kaum ein anderes Werk das Gewicht eines ganzen Jahrhunderts in das Leben einer einzelnen Frau legt. Es ist ein Buch, das sofort spürbar macht, warum Gröschner zu den wichtigsten Stimmen ihrer Generation zählt und weshalb sie 2025 als Mainzer Stadtschreiberin geehrt wurde. Nominiert für den Deutschen Buchpreis, verbindet dieser Roman poetische Kraft mit einer Wirklichkeitsnähe, die tief berührt. Im Mittelpunkt steht Hanna Krause – eine Frau, die zunächst als Blumenbinderin arbeitet, bevor das Leben sie, wie so viele in ihrer Generation, in eine völlig andere Richtung treibt. Sie wird Kranführerin in einem Magdeburger Schwermaschinenbaubetrieb, und von ihrem Platz hoch oben in der Halle hat sie buchstäblich einen Überblick über die Beziehungen, Dramen und Hoffnungen der Menschen unter ihr.

Doch Schwebende Lasten ist weit mehr als eine Biografie. In Hanna verdichtet sich die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts: zwei Weltkriege, zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, ein Aufstand, zwei Niederlagen, zwei Demokratien. Sie erlebt den Kaiser ebenso wie diejenigen, die auf ihn folgen, und sie muss lernen, wie man sich immer wieder neu in einer Welt behauptet, die sich mit brutaler Geschwindigkeit verändert. Gröschner gelingt es, diese Ereignisse nicht abstrakt oder belehrend zu erzählen, sondern sie durch die Erfahrungen einer Frau erfahrbar zu machen, die ihre Würde nie verliert. Hanna verliert zwei ihrer Kinder und trägt diesen Schmerz, der sie bis zum Lebensende begleitet, ohne zu verbittern. Sie erlebt, wie ihr Blumenladen Geschichte wird, und doch bleibt sie ihrem einfachen, klaren Credo treu: anständig bleiben. Gerade diese Haltung macht Hanna zu einer Figur, die den Leser nicht mehr loslässt. Sie ist keine Heldin im klassischen Sinn, sondern eine Frau, die das Leben nimmt, wie es kommt, und deren stille Beharrlichkeit ein ganzes Zeitalter spiegelt. In ihrer Geschichte zeigt sich die Unsichtbarkeit vieler Frauen, die im 20. Jahrhundert die Lasten von Kriegen, Arbeit, Verlust und gesellschaftlichen Umbrüchen getragen haben, ohne je im Rampenlicht zu stehen. Gröschner gibt ihnen mit Hanna eine Stimme, die klar, poetisch und tief bewegend ist. Literarisch besticht der Roman durch seine Schlichtheit, die keine Vereinfachung ist, sondern eine große Stärke. Gröschner schreibt in Bildern, die aus der Realität geboren sind, und verleiht ihnen eine stille Schönheit, die lange nachhallt. Schwebende Lasten ist ein Roman über das Ende des Industriezeitalters im Osten Deutschlands, über die Kraft des Durchhaltens und die Würde des „gewöhnlichen Lebens“, das in Wahrheit alles andere als gewöhnlich ist. Es ist ein Buch, das zeigt, wie Literatur nicht nur Geschichten erzählt, sondern ganze Zeiten und ihre Menschen sichtbar macht.