mit dem Werk „Treue“ von Roberto Saviano.

// Roberto Saviano hat es wieder getan. Mit Treue legt er ein Werk vor, das nicht nur aufrüttelt, sondern tief unter die Haut geht. Es ist ein Buch, das man nicht still lesen kann – zu groß ist die Wucht der Geschichten, zu beklemmend die Nähe, die Saviano zu seinen Protagonistinnen herstellt. Nach Gomorra, mit dem er die kriminellen Strukturen der Camorra schonungslos entblößte, wendet sich Saviano hier einem Thema zu, das kaum je so offen beleuchtet wurde: den Frauen in der Mafia. Den Mitwisserinnen. Den Müttern. Den Geliebten. Denjenigen, die viel zu oft schweigend bleiben mussten. Treue ist dabei kein nüchterner Bericht über Organisationen oder Machtverhältnisse – es ist ein zutiefst persönliches, fast literarisches Werk. Saviano erzählt von Frauen, deren Leben durch die mafiöse Logik von Treue und Kontrolle gezeichnet sind. Dabei eröffnet er einen radikal neuen Blickwinkel: Was bedeutet Treue, wenn sie nicht frei gewählt, sondern erzwungen ist? Was bedeutet Liebe, wenn sie in einem System lebt, das Gefühle als Machtinstrument missbraucht? Saviano porträtiert reale Biografien mit einer Intensität, die erschüttert. Maria Grazia Conte zum Beispiel, deren heimlich geborener Sohn ihr zum Verhängnis wird – weil es in der Welt der Mafia keine Geheimnisse geben darf, schon gar keine Kinder, die außerhalb des Systems entstanden sind. Oder Vincenzina Marchese, die verheiratet wird, um einen Friedensvertrag zwischen verfeindeten Familien zu besiegeln.
Sie wird zum Spielstein, zur Ware, zur geopferten Braut – und man spürt auf jeder Seite den inneren Bruch, den diese Rolle in ihr hinterlässt. Besonders eindrücklich ist auch die Geschichte von Anna Carrino, die anfangs als loyale Ehefrau das Geschäft ihres inhaftierten Mannes weiterführt – und dann alles verliert, als sie von seiner heimlichen Geliebten erfährt. Ihre Rache ist nicht laut. Sie beginnt zu reden. Und mit ihrem Reden beginnt das System zu bröckeln. Was dieses Buch so stark macht, ist Savianos Zurückhaltung. Er urteilt nicht. Er beobachtet, beschreibt, lässt die Geschichten für sich sprechen. Gerade dadurch entfalten sie ihre ganze Kraft. Seine Sprache ist klar und eindringlich, aber gleichzeitig voller Empathie. Man merkt, dass er seine Figuren nicht vorführt, sondern ihnen Raum gibt. Raum für Widersprüche, für Verzweiflung, für das kleine Aufbäumen gegen ein scheinbar übermächtiges System. Treue ist dabei weit mehr als ein Buch über die Mafia. Es ist auch ein Buch über uns. Über Strukturen, in denen Frauen für Frieden geopfert werden. Über Beziehungen, in denen Liebe und Kontrolle ununterscheidbar werden. Es erzählt von der dunklen Seite weiblicher Stärke – nicht von Heldinnen, sondern von Frauen, die durchhalten, schweigen, sich fügen oder irgendwann doch die Stimme erheben. Und es erzählt davon, was es kostet, wenn man endlich redet. Mich hat dieses Buch tief bewegt. Es ist schmerzhaft, wütend machend und gleichzeitig hoffnungsvoll. Treue ist kein leichtes Buch. Aber ein wichtiges. Eines, das bleibt.
UND WAS NUN?