// strichcode vol. (4)18 – „nezumi“

mit den Werken „Nezumi“ und „HUÀ“. // Als ich „HUÀ – The Art Of Mochipanko“ zum ersten Mal in den Händen hielt, hatte ich noch keine Ahnung, dass ich gleich in eine Welt gezogen werden würde, die mich so tief berühren und gleichzeitig so vollkommen herausfordern würde. Der Titel, „HUÀ“, dieses zarte, chinesische Wort für […]

mit den Werken „Nezumi“ und „HUÀ“.

// Als ich „HUÀ – The Art Of Mochipanko“ zum ersten Mal in den Händen hielt, hatte ich noch keine Ahnung, dass ich gleich in eine Welt gezogen werden würde, die mich so tief berühren und gleichzeitig so vollkommen herausfordern würde. Der Titel, „HUÀ“, dieses zarte, chinesische Wort für „Strich“ oder „Zeichnung“, klingt zunächst schlicht – fast unscheinbar –, aber mit jeder Seite wird klarer: Es ist eine Einladung, genauer hinzusehen. Und das lohnt sich. Dieses Buch ist kein bloßes Bilderbuch. Es ist vielmehr ein offenes Fenster in die Gedankenwelt einer Künstlerin, die ihre Gefühle, Träume und Ängste nicht über Worte, sondern über Linien, Farben und Kompositionen ausdrückt. Was Mochipanko hier geschaffen hat, ist eine visuelle Reise, die sich nicht in klassischen Kategorien wie „schön“ oder „verstörend“ einordnen lässt. Es ist beides – und noch viel mehr.

Auf knapp 200 Seiten im edlen, großformatigen Hardcover-Look entfaltet sich ein Werk, das zwischen kindlicher Fantasie und düsterem Unterbewusstsein pendelt, zwischen zarten Aquarelltönen und dunklen Schatten, zwischen filigranen Details und großflächigen Stimmungen. Manchmal fühlte ich mich beim Betrachten der Seiten, als hätte jemand einen Traum gezeichnet, den ich selbst einmal geträumt habe – nur dass ich ihn vergessen hatte, bis dieses Buch ihn mir wieder vor Augen führte. Es ist, als ob die Bilder eine Sprache sprechen, die man nicht gelernt hat, aber trotzdem versteht. Mochipankos Stil ist etwas ganz Eigenes. Ihre Zeichnungen wirken auf den ersten Blick niedlich oder verspielt, doch schaut man länger hin, merkt man, dass da oft ein subtiles Unbehagen mitschwingt, eine Irritation, die sich langsam ausbreitet wie ein Echo. Genau darin liegt die Magie: Man wird nicht nur ästhetisch angesprochen, sondern emotional auf eine ganz feine Weise erschüttert.

Es sind nicht einfach Illustrationen, es sind stille Geschichten, flüchtige Gedankenfetzen, Fragmente aus einem Wunderland, vielleicht sogar Teile eines inneren Dialogs, die sich in „HUÀ“ über die Seiten ziehen – nie laut, nie belehrend, eher wie ein zarter Hauch von etwas, das man fast kennt, aber nicht ganz greifen kann. Es ist ein Artbook im klassischen Sinne, ein Werk der Kontemplation und der visuellen Poesie, das mehr Fragen stellt, als es Antworten gibt – und genau darin liegt sein Reiz. Dem gegenüber steht „Nezumi“ von Riku Oseto, ein Comic mit stringenter Erzählung und radikaler emotionaler Tiefe. Im Zentrum steht ein Mädchen, das töten muss, weil sie einst zu diesem Zweck erzogen wurde. Nezumi mordet mit präziser Kälte – nicht aus Bosheit, sondern weil es ihr beigebracht wurde. Doch in ihr glimmt etwas, das diesem System widerspricht: eine unerschütterliche Liebe zu einem Jungen, einem einzigen Menschen, der sie wirklich sieht. Als dieser von ihren Peinigern entführt wird, bietet sie an, ihn zum Mörder auszubilden – nicht aus Grausamkeit, sondern weil sie weiß, dass dies seine einzige Chance ist zu überleben. Diese moralisch verstörende Entscheidung – aus Liebe heraus das Unverzeihliche zu tun – zieht sich wie ein dunkler Faden durch die gesamte Geschichte. Nezumi zwingt uns, über die Grenzen von Schuld und Unschuld nachzudenken, über freie Entscheidung, Manipulation und den Preis der Loyalität. Es ist ein Werk, das sich mit roher Intensität in mein Denken eingebrannt hat. Wo „HUÀ“ andeutet, träumt und verschweigt, da ist „Nezumi“ direkt, greifbar und manchmal sehr brutal. Während ich bei „Nezumi“ von Seite zu Seite in einem emotionalen Strudel gefangen war, habe ich bei „HUÀ“ oft minutenlang auf einer einzigen Illustration verweilt – versucht zu spüren, was unausgesprochen bleibt. Diese beiden Werke erzählen auf völlig unterschiedlichen Wegen, was Kunst leisten kann. Der eine führt durch dunkle Gassen und innere Konflikte, der andere lädt zum Verweilen in einer schwebenden Gedankenwelt ein.