// werktag vol. (1)73 – „keine macht für niemand“

mit dem Werk „Keine Macht für Niemand“ von von Marcus S. Kleiner. // Marcus S. Kleiner gelingt mit Keine Macht für Niemand. Pop und Politik in Deutschland ein ebenso umfassendes wie leidenschaftliches Werk, das weit über eine reine musikhistorische Betrachtung hinausgeht. Auf knapp 500 Seiten entfaltet er ein Panorama der deutschen Popgeschichte, das gleichermaßen analytisch, […]

mit dem Werk „Keine Macht für Niemand“ von von Marcus S. Kleiner.

// Marcus S. Kleiner gelingt mit Keine Macht für Niemand. Pop und Politik in Deutschland ein ebenso umfassendes wie leidenschaftliches Werk, das weit über eine reine musikhistorische Betrachtung hinausgeht. Auf knapp 500 Seiten entfaltet er ein Panorama der deutschen Popgeschichte, das gleichermaßen analytisch, erzählerisch und politisch ist. Kleiner, der als Medien- und Kulturwissenschaftler längst für seine fundierten und zugleich zugänglichen Arbeiten bekannt ist, schafft es auch hier wieder, seine akademische Expertise mit einem spürbaren persönlichen Interesse an Musik und Gesellschaft zu verbinden – und das auf eine Weise, die den Leser nicht belehrt, sondern einlädt. Was dieses Buch besonders lesenswert macht, ist die Art und Weise, wie Kleiner Popmusik nicht als Begleiterscheinung, sondern als Spiegel und Mitgestalter gesellschaftlicher Entwicklungen versteht.

Die letzten acht Jahrzehnte deutscher Geschichte werden anhand von Popmusik erzählt – nicht chronologisch trocken, sondern thematisch verdichtet, immer wieder durchzogen von spannenden Zeitzeugnissen, präzisen Analysen und klug gesetzten Kontexten. Es geht um Protest, um Widerstand, um Zugehörigkeit und Ausgrenzung, um linke Utopien und rechte Bedrohungen – kurzum, um alles, was gesellschaftlich relevant ist und sich im Pop artikuliert oder zumindest widerspiegelt. Besonders eindrucksvoll sind die zahlreichen Interviews mit Künstlern, die ihre ganz eigenen Perspektiven auf das Verhältnis von Pop und Politik einbringen. Stimmen wie Sammy Amara von den Broilers, Nagel von Muff Potter, Ingo Donot oder Jan Müller von Tocotronic liefern nicht nur spannende Einblicke in ihre musikalischen Biografien, sondern machen deutlich, wie sehr politisches Bewusstsein und künstlerischer Ausdruck miteinander verknüpft sein können – oder sogar müssen. Diese Gespräche sind keine netten Anekdoten, sondern bereichern die Argumentation des Buches substanziell und verankern die Theorie im gelebten Popalltag. Dabei ist Keine Macht für Niemand nie nostalgisch oder verklärt. Kleiner romantisiert die Popgeschichte nicht, sondern schaut genau hin – auch auf ihre blinden Flecken, ihre Kommerzialisierung, ihre Widersprüche. Der Titel, entlehnt von einem Song der Ton Steine Scherben, ist programmatisch zu verstehen: Popmusik als widerständige Kraft, als Medium politischer Artikulation, als Ort der Auseinandersetzung mit Autorität, Macht und Gesellschaft. Das Buch ist hochwertig gestaltet, mit vielen eindrucksvollen Fotos , die dem Text zusätzliche Tiefe verleihen und die emotionale Dimension der behandelten Themen perfekt unterstreichen. Es gehört zur Reihe Reclam 100 Seiten Musik bzw. Reclam’s Musikbibliothek, fällt jedoch mit seiner inhaltlichen Tiefe und seinem Umfang deutlich aus dem Rahmen üblicher Reclam-Veröffentlichungen – und das im besten Sinne. Wer sich für Popmusik interessiert, für deutsche Zeitgeschichte, für kulturelle Selbstverständigung und politische Diskurse, wird mit diesem Buch nicht nur klüger, sondern auch wacher zurückgelassen. Es ist ein Werk, das lange nachhallt, weil es zeigt, dass Pop nie nur Unterhaltung war – sondern immer auch Haltung.