// werktag vol. (1)78 – „heimatland“

mit dem Werk „Heimatland“ von Güner Yasemin Balci. // Als ich Heimatland von Güner Yasemin Balci gelesen habe, hatte ich das Gefühl, dass hier jemand nicht einfach ein Buch schreibt, sondern ein Stück Leben festhält – roh, ehrlich, verletzlich, aber auch voller Kraft. Balci erzählt nicht aus einer distanzierten Beobachterrolle, sondern aus der Mitte heraus, […]

mit dem Werk „Heimatland“ von Güner Yasemin Balci.

// Als ich Heimatland von Güner Yasemin Balci gelesen habe, hatte ich das Gefühl, dass hier jemand nicht einfach ein Buch schreibt, sondern ein Stück Leben festhält – roh, ehrlich, verletzlich, aber auch voller Kraft. Balci erzählt nicht aus einer distanzierten Beobachterrolle, sondern aus der Mitte heraus, aus der eigenen Biografie, und genau das macht diesen Text so eindringlich. Ihre Eltern kamen als Gastarbeiter nach Berlin-Neukölln, ins Rollbergviertel, und was zunächst nach Aufbruch und Fortschritt klang – eine Wohnung mit eigenem Bad, ein Ankommen in einer fremden Welt – verwandelte sich bald in einen Mikrokosmos, der alles andere als einfach war. Während Balci ihre Kindheit noch als unbeschwert beschreibt, kippt die Atmosphäre im Viertel in den 1980er-Jahren: Aus einem Arbeiterviertel wird ein sozialer Brennpunkt, beherrscht von Machtdynamiken arabischer Großfamilien, von einem reaktionären Islam, der Frauen und Mädchen Selbstbestimmung raubt, und von einem Klima, in dem Härte überleben bedeutet. Was mich besonders bewegt hat, ist, wie Balci diese Entwicklungen nicht schwarz-weiß zeichnet.

Sie zeigt die Verlockungen von Zugehörigkeit, die Wärme von Freundschaften, die Momente, in denen Gemeinschaft trägt – und zugleich die Härte, die Gewalt, die Enge. In jeder Episode spürt man, wie sie sich selbst behaupten musste, wie sie zwischen Welten stand: der Welt ihrer Eltern, die Sicherheit suchten; der Welt des Viertels, die immer rauer wurde; und der Welt der Mehrheitsgesellschaft, die oft wegsah oder vorschnell urteilte. Beim Lesen hatte ich immer wieder den Eindruck, dass dieses Buch nicht nur eine Erinnerung ist, sondern auch ein Aufruf. Balci macht klar, dass Demokratie kein abstraktes Konzept ist, sondern eine tägliche Herausforderung. „Zähne zeigen gegen die Feinde der Demokratie“ – dieser Untertitel klingt kämpferisch, aber im Buch selbst spürt man vor allem, wie existenziell dieser Kampf ist: gegen reaktionäre Strukturen, gegen Gleichgültigkeit, gegen das Vergessen. Ihre Sprache ist direkt, schnörkellos, manchmal fast nüchtern – und gerade dadurch so stark. Es gibt Passagen, in denen ich beim Lesen innehielt, weil sie mit wenigen Sätzen eine ganze Welt öffnet: die Gerüche im Treppenhaus, die Angst auf dem Schulhof, die kleinen Triumphe, wenn man sich nicht unterkriegen lässt. Balci verknüpft diese Erinnerungen mit Reflexionen, die weit über Neukölln hinausgehen. Man spürt, dass sie ihr Viertel als Brennspiegel versteht: für Fragen von Zugehörigkeit, von Freiheit, von Verantwortung. Heimatland ist aber nicht nur eine Abrechnung. Es ist zugleich eine Liebeserklärung – an das Land, das ihr Heimat wurde, trotz aller Härten; an die Menschen, die sie geprägt haben; an die Idee, dass Demokratie mehr sein kann als ein Wort. Es ist ein Buch, das Mut macht, weil es zeigt, dass Verletzlichkeit und Stärke keine Gegensätze sind, sondern zwei Seiten derselben Erfahrung. Am Ende hatte ich das Gefühl, dass dieses Buch mich nicht nur in eine Biografie mitgenommen hat, sondern auch in eine Zeit, in der Fragen von Herkunft, Zusammenhalt und Demokratie neu gestellt werden müssen. Balci zeigt, dass diese Fragen nicht theoretisch sind, sondern unmittelbar mit dem eigenen Leben zu tun haben. Heimatland ist ein Zeugnis – und eine Einladung, sich nicht abzufinden.