mit dem Werk „Dark Fairy Tales“ von Viktor Wynd.

// Dark Fairy Tales von Viktor Wynd ist ein Buch, das man nicht einfach liest – man taucht hinein wie in einen dunklen, glitzernden Traum, in dem die Grenzen zwischen Märchen, Albtraum und schwarzem Humor verschwimmen. Der britische Kurator, Künstler und Geschichtensammler, bekannt für sein kurioses „Museum of Curiosities“ in London, hat hier eine Sammlung von Erzählungen zusammengestellt, die so bizarr, makaber und gleichzeitig wundervoll poetisch sind, dass man sich ihnen kaum entziehen kann. Wynd führt seine Leserinnen und Leser durch die „weirderen Ecken“ der Volksmärchen aus aller Welt – von Irland über Deutschland bis nach Papua-Neuguinea und Borneo. Dabei geht es nie um die polierten, kindgerechten Versionen, die man aus den Märchenbüchern kennt, sondern um jene urtümlichen, schmutzigen, verstörenden Geschichten, die einst am Lagerfeuer erzählt wurden – voll von Blut, Lust, List und moralischen Abgründen. Seine Figuren sind Gestalten, die man nicht vergisst: ein einäugiger Troll, ein törichter Glücksritter, ein Baby fressendes Schwein, ein Mädchen, das glaubt, eine Hexe austricksen zu können. Jede Geschichte trägt den Duft von Moder und Magie, die Atmosphäre eines alten, handgeschriebenen Manuskripts, das man besser nicht nach Mitternacht öffnet. Was Dark Fairy Tales so besonders macht, ist die Art, wie Wynd diese Geschichten rahmt.
Vor jedem Kapitel berichtet er, wo und wie er die jeweilige Erzählung gefunden hat – mal in einer verregneten Nacht in Wales, mal in einer Wüstenstadt. Dadurch entsteht das Gefühl, einem Weltenwanderer zu lauschen, der seine Schätze aus längst vergessenen Kulturen mitgebracht hat. Seine Sprache ist voller Charme und Ironie, gleichzeitig liebevoll altmodisch und von einer fast viktorianischen Theatralik. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Illustrationen der transsilvanischen Künstlerin Luciana Nedelea, deren schwarz-weiße Zeichnungen eine perfekte Balance zwischen Anmut und Abgründigkeit finden. Ihre Linien sind fein, fast zart, doch das, was sie zeigen, ist oft grotesk – verzerrte Gesichter, Schattenwesen, fragile Schönheiten mit leeren Augen. Das Ergebnis ist eine visuelle Welt, die Wynds Geschichten kongenial begleitet: elegant, düster, ein wenig dekadent. Auch als Objekt ist das Buch ein kleines Kunstwerk: mit Folienprägung, ornamentalen Rändern und einem Design, das tatsächlich an ein verbotenes Artefakt erinnert – ein Buch, das in einem alten Kuriositätenkabinett liegen könnte, zwischen ausgestopften Raben und Glasgefäßen mit seltsamen Inhalten. Was mich an Dark Fairy Tales besonders fasziniert hat, ist, dass Wynd das Erzählen selbst zum Thema macht. In einem abschließenden Kapitel widmet er sich der Kunst, Märchen zu bewahren und weiterzugeben – dem Zauber, der entsteht, wenn Geschichten von Mund zu Mund wandern, sich verändern und in den Köpfen der Zuhörer weiterleben. Das verleiht dem Buch eine zusätzliche Tiefe: Es ist nicht nur eine Sammlung von Geschichten, sondern auch ein Plädoyer für die Kraft der mündlichen Überlieferung – und für das Dunkle als unverzichtbaren Teil unserer Fantasie. Dark Fairy Tales ist ein prachtvoll gestaltetes, wunderbar unheimliches Buch für alle, die sich gerne in die Schattenseiten der Märchenwelt begeben. Es erinnert daran, dass das Fantastische nie nur schön ist – sondern immer auch ein wenig schmutzig, wild und gefährlich. Ein ideales Buch für Herbstnächte, Kerzenlicht und jene Momente, in denen man das Gruseln vermisst, das man als Kind einst geliebt hat. In diesem Sinne. Happy Halloween.
UND WAS NUN?