// aufgelesen vol. (4)42 – „nocticadia“

mit dem Werk „Nocticadia“ von Keri Lake. // Es gibt diese seltenen Bücher, die man aufschlägt und sofort spürt: Hier stimmt einfach alles. Die Stimmung, die Figuren, das leise, unheilvolle Zittern unter der Oberfläche. Keri Lake schafft genau das mit Nocticadia – eine Geschichte, die sich anfühlt wie ein dunkler Sog, der einen langsam, aber […]

mit dem Werk „Nocticadia“ von Keri Lake.

// Es gibt diese seltenen Bücher, die man aufschlägt und sofort spürt: Hier stimmt einfach alles. Die Stimmung, die Figuren, das leise, unheilvolle Zittern unter der Oberfläche. Keri Lake schafft genau das mit Nocticadia – eine Geschichte, die sich anfühlt wie ein dunkler Sog, der einen langsam, aber unaufhaltsam in eine Welt aus Geheimnissen, Sehnsucht und Gefährlichkeit zieht. Und je weiter man liest, desto weniger möchte man wieder auftauchen. Was mich von Anfang an gepackt hat, ist Lilias Stimme. Lilia Vespertine wirkt nie konstruiert, nie überhöht – sie ist eine junge Frau, die viel gesehen hat, vielleicht sogar zu viel. Ihre Besessenheit, den Tod ihrer Mutter endlich zu verstehen, wirkt so ehrlich und greifbar, dass man sofort an ihrer Seite steht. Sie zweifelt an sich, sie fürchtet, sie hofft – und trotzdem ist da dieser unerschütterliche Kern, der sie antreibt, selbst wenn niemand sonst ihr glaubt. Gerade diese Mischung aus Verletzlichkeit und Entschlossenheit macht sie zu einer der fesselndsten Protagonistinnen, die ich seit Langem gelesen habe. Und dann taucht Devryck Bramwell auf.

Dieser Mann wirkt wie ein Sturm, der in einem scheinbar ruhigen Raum losbricht. Gleichzeitig distanziert, gnadenlos klug und emotional undurchdringlich – bis man plötzlich merkt, dass da unter seiner kalten Oberfläche Risse sind. Risse, die Lilia gefährlich nahekommen. Lake schreibt ihre Dynamik so elektrisch, dass man die Spannung beim Lesen fast körperlich spüren kann. Es ist kein typisches „Opposites attract“, sondern eher das Gefühl zweier Menschen, die sich gegenseitig nur noch tiefer in die Wahrheit – und ins Verderben – treiben. Die Atmosphäre von Nocticadia ist für mich der wahre Schatz des Romans. Diese abgelegene Universität, abgeschieden und fast unheimlich ruhig, wirkt wie ein Ort, der selbst ein Geheimnis trägt. Jeder Flur, jedes abgeschlossene Labor, jede Begegnung scheint ein Stück tiefer in ein dunkles Geflecht zu führen. Die Mischung aus wissenschaftlicher Präzision und gotischem Schauder sorgt für einen Sog, der den Roman einzigartig macht. Lake schreibt so bildhaft, dass man den kalten Stein unter den Fingern fast fühlen kann und das Flüstern ungesagter Dinge beim Lesen deutlich hört. Dass der Roman ein Einzelband ist, macht ihn sogar noch intensiver. Die Geschichte wirkt dicht, geschlossen, sorgfältig aufgebaut. Nichts wird gestreckt, nichts losgelassen – alles entfaltet sich in einem Stück, bis man am Ende das Gefühl hat, etwas Großes gelesen zu haben. Ein Werk, das durch seine Seiten nicht träge wird, sondern gerade dadurch seine Kraft entfaltet. Es ist ein Buch, dem man sich voll hingeben kann, weil man weiß: Am Ende steht ein Abschluss, der nachhallt. Persönlich hat mich besonders bewegt, wie sehr Nocticadia mit den Grenzen zwischen Neugier und Obsession spielt. Zwischen Wahrheitssuche und Selbstzerstörung. Zwischen Anziehung und Gefahr. Es ist dieser schmale Grat, der das Buch so unwiderstehlich macht. Man versteht Lilia, selbst wenn sie Fehler macht. Man versteht Bramwell, selbst wenn er sich selbst im Weg steht. Man versteht beide, weil sie sich in einer Welt bewegen, die größer, dunkler und komplizierter ist als sie selbst. Für mich gehört Nocticadia zu den Romanen, die man spät nachts liest, weil man weiß, dass das Buch eben nicht darauf wartet, bis man wieder Zeit hat. Es fordert Aufmerksamkeit, es fordert Hingabe – und es belohnt beides. Ein intensiver, atmosphärischer Gothic-Roman, der nicht nur erzählt, sondern erlebt werden will. Und einer, der lange im Kopf bleibt, wenn die letzte Seite längst umgeblättert ist.